Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)
selten hörte, war er fähig, und mir fiel in jenem Augenblick ein ähnlich offenherziger ein, den man ihm im Frühsommer 1973 im Jerusalemer King-David-Hotel ablauschen konnte. Zu Hause bereits schwer unter Druck, hatte er auf Staatsbesuch in Israel keinen Hehl aus seiner Freude darüber gemacht, dem innenpolitischen Klein-Klein wenigstens für einige Tage entronnen zu sein, und als ihn einer meiner Kollegen dennoch mit den üblichen heimischen Kabinettsquerelen nervte, ungewohnt schroff reagiert: Er werde «den Teufel tun, hier über derartige Scheißthemen zu reden». Seinerzeit in Nahost, und mehr noch im darauffolgenden September am Rande seines ersten Auftritts im Plenum der Vereinten Nationen in New York, stellte sich selbst beim wohlwollenden Beobachter ein leicht beunruhigender Verdacht ein: Der sensible Regent, so sah es zumindest aus, befand sich da auch ein bisschen auf der Flucht in die große weite Welt. Wie sehr er sich überwinden musste, den nach außen hin vorbildlich glatt verlaufenen Stabwechsel im Kanzleramt einen ganz normalen Vorgang zu nennen, ließ sich allenfalls erahnen. Schließlich galt sein Verzicht über Monate hinweg auch unter politischen Profis als geheimnisumwittert, und ich entsinne mich noch einer Frage, mit der mich im Juli 1974 der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Helmut Kohl in Mainz empfing: Ob ich ihm «als Soz» nicht erklären könne, wollte der mittlerweile starke Mann der Opposition vor einem Interview wissen, weshalb sich «der Brandt wirklich vom Acker gemacht» habe? «Der wäre doch auf Jahre hinaus», schob er dann überraschend ehrfürchtig hinterher, «von niemandem zu schlagen gewesen.»
War es frommer Selbstbetrug, wenn sich der Exkanzler jetzt damit tröstete, der Parteivorsitz sei der im Grunde bedeutendere Job? In Wahrheit wurmte ihn mächtig, dass ihm sein Nachfolger als Ökonom schnell den Rang ablief, und ebenso wenig kam er mit der Fülle der Ungereimtheiten zurande, die nach seiner Ansicht den «Fall Guillaume» überschatteten. «Diese ekelhafte deutsch-deutsche Spießerkomödie», hörte ich ihn einmal verächtlich zwischen den Zähnen hervorpressen, doch seine später bis zur fixen Idee gesteigerte Vermutung, Herbert Wehner habe womöglich an ihr mitgewirkt, behielt er vorerst für sich.
Es dauerte eine Weile, bis sich der innenpolitisch häufig schwankende Vorsitzende wieder stabilisiert zu haben schien; eine Folge auch seiner beträchtlichen Reputation im Ausland. Wer ihm gelegentlich dabei zusehen durfte, mit wie viel Engagement er sich selbst in Phasen eigener harter Bedrängnis etwa um die «Nelkenrevolution» in Portugal und danach den Übergang Spaniens zur Demokratie gekümmert hatte, wunderte sich darüber kaum. Seit 1976 stand er nicht nur der Sozialistischen Internationale (SI) vor, sondern war außerdem vom Weltbank-Präsidenten Robert McNamara zum Chef der sogenannten Nord-Süd-Kommission berufen worden – für den ehrgeizigen Willy Brandt beides Ämter, die seinem Denken in möglichst großen Zusammenhängen entsprachen.
Und er kniete sich rein. Ins Gedächtnis eingegraben hat sich mir vor allem der 14. SI-Kongress im November 1978 in Vancouver, wo ihn die gastgebenden kanadischen Genossen mit wahren Elogen überhäuften. «Kein Zweiter», feierten sie den Deutschen, habe «in puncto Gerechtigkeit mehr auf den Weg gebracht als er», und nach einer frenetisch bejubelten Rede, in der es ihm insbesondere um die Unterstützung und den Ausbau sozialistischer Organisationen in Schwellenländern ging, erwies sich die Wiederwahl nur noch als Formsache.
Dabei war ihm einer angeblich fiebrigen Grippe wegen einige Male die Stimme weggeblieben – was ich abends in seiner Suite etwas flapsig dramatisierte. Vom Rotwein angeheitert, veralberte ich seinen Gesundheitszustand leicht verwegen als äußerst besorgniserregend, und auf seine spöttische Rückfrage, ob ich vielleicht «im Nebenberuf Heilpraktiker» sei, flunkerte ich munter weiter: Nein, das wolle ich zwar nicht behaupten, verstünde mich aber tatsächlich auf «die Kunst der Irisdiagnose».
Umso beklemmender dann die Nachricht, dass nach seiner Heimkehr ein Herzinfarkt festgestellt wurde. Wie bereits im Herbst 1972, als er sich auf dem Gipfel seiner Kanzlerkarriere einer mit schweren Depressionen einhergehenden Kehlkopfoperation unterziehen musste, verschwand er wortlos von der Bildfläche, während die geheimniskrämerische sozialdemokratische Informationspolitik das
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