Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)
niemandem eine «wirkliche Nähe» verspürt, tritt ja gottlob der Großvater in sein Leben. Der stammt aus dem Mecklenburgischen, wo er sich auf einem gräflichen Landgut als miserabel behandelter Knecht durchgeschlagen hat, bis er sich zu Beginn des Jahrhunderts mit den Seinen ins nahegelegene Lübeck aufmacht. In St. Lorenz richtet er sich als Lastwagenfahrer zunächst in der Meierstraße 16 ein – später Herberts Geburtshaus –, aber dann stirbt unverhofft seine Frau Wilhelmine. Mit einer neuen, der erst dreiunddreißigjährigen Dorothea Sahlmann, die ihm 1919 angetraut wird, zieht er in eine von der Firma bereitgestellte Werkswohnung und unterstützt zugleich seine Tochter, indem er deren Sohn zu sich nimmt.
Der sensible, sich oft verkriechende Enkel ist darüber am Anfang noch unglücklicher als zuvor. Die «Tante Dora» kann er nicht ausstehen, während ihn die überforderte Mutter Martha, die Ende der zwanziger Jahre den Maurerpolier Emil Kuhlmann heiratet und mit ihm einen zweiten Knaben zeugt, nur noch sporadisch besucht. Umso enger klammert er sich an den «Papa», der mit seinem kahlgeschorenen Schädel und seiner gedrungenen, derben Gestalt, vor allem aber der «geistigen Statur» wegen einen enormen Eindruck auf ihn macht.
Von der Mutter nach Kräften herausgeputzt, aber häufig ohne Nestwärme: Herbert Frahm um 1920.
Dieser Ludwig («Ludden») Frahm, so entsinnt sich der spätere Staatsmann Willy Brandt gerne, sei in den Stürmen der Weimarer Republik eine «treue und genügsame Seele der Mehrheitssozialdemokratie» gewesen – und was immer der Großvater im drögen norddeutschen Platt an politischen Parolen zu verkünden hat, ist ihm hoch und heilig. In der Regel sind das die goldenen Worte des legendären, einige Monate vor der Geburt des Knaben zu Grabe getragenen Parteipatriarchen August Bebel.
Vor allem dessen Verheißung, der heruntergekommenen Bourgeoisie werde bald das letzte Stündlein schlagen und an ihre Stelle ein «Vaterland der Liebe und Gerechtigkeit» treten, prägt sich dem wissbegierigen kleinen Herbert wie ein Lehrsatz ein. Obwohl die Alltagserfahrungen in der frühen Nachkriegszeit eine ganz andere Entwicklung nahelegen, ist der Junge nicht davon abzubringen, das hehre Versprechen für bare Münze zu nehmen. Und wenn er in den Arbeiterkneipen seines Viertels den fortschrittsgläubigen «Altvordern» lauscht, wie sie bei Bier und Köm die helle Zukunft beschwören, empfindet er eine «aufregend kitzelige Vorfreude».
Doch in Wirklichkeit sind das Träume. Welche tiefen Gräben die zu Beginn der Weimarer Republik nach wie vor ständisch gegliederte Gesellschaft durchziehen, lässt sich an kaum einem Ort anschaulicher vermitteln als in Lübeck. In der Stadt an der Trave, die in der Endphase der Monarchie knapp einhundertzwanzigtausend Einwohner zählt und mit einigen Randgemeinden den nach Bremen flächenmäßig kleinsten eigenständigen Staat im Reichsgebiet bildet, herrschen noch weitgehend anachronistische Zustände.
Ein Zweiklassenwahlsystem sichert den Vermögenden einhundertfünf von einhundertzwanzig Sitzen und verzerrt die politischen Kräfteverhältnisse in der Bürgerschaft auf geradezu groteske Weise. Auch nachdem das Wahlrecht Ende 1918 reformiert wird, ändert sich nicht viel. Die Senatoren und der Bürgermeister bleiben selbst dann noch im Amt, als die SPD im Februar 1919 im Parlament die absolute Mehrheit erreicht und die Hansestadt in den Wochen der Novemberrevolution mit nahezu zehntausend Mitgliedern zu den Hochburgen der deutschen Sozialdemokratie gehört. Doch das alteingesessene Establishment aus Schiffsreedern, Kaufleuten und Juristen behauptet sich bis weit in die zwanziger Jahre hinein an der Macht.
Als ob dort nichts geschehen wäre, ist die traditionsbewusste Handelsmetropole, die einst den gesamten Ostseeraum dominierte, wie eh und je eine auf exemplarische Art geteilte Welt. Innerhalb der historischen Stadtmauern residieren in häufig mit kunstvollen Treppengiebeln aus der Renaissance verzierten Häusern die Patrizier und arrivierten Bürgerlichen, während die Arbeiterschaft außerhalb des Zentrums wohnt. Zwischen Schlackenhalden und ewig rauchenden Schornsteinen haust sie in hässlichen Neubausiedlungen wie Kücknitz, Siems-Dänischburg oder eben St. Lorenz, die ihr Wachstum dem seit der Jahrhundertwende andauernden industriellen Boom verdanken.
Natürlich macht sich der aufgeweckte Herbert, wenn er am prächtigen Holstentor vorbei in die
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