Willy Brandt und Helmut Schmidt: Geschichte einer schwierigen Freundschaft (German Edition)
der Spree an den Rhein verschlug und der sich nun nach nahezu einem Vierteljahrhundert im Parteivorsitz verabschiedet: er blickt nicht im Zorn zurück, sondern kritisch auch auf sich selber.»
«Lebensläufe lassen sich nicht auf Flaschen ziehen. Mein Verdienst ist es nicht, wenn ich – vielleicht – der letzte Vorsitzende war, der aus der Arbeiterschaft kam und in der alten Arbeiterbewegung aufwuchs.»[ 9 ]
Brandt lauschte seinem Leben nach – und dem Jahrhundert. Beides verfloss in dem Augenblick ineinander. Es war ihm nicht in die Wiege gelegt, aber das Leben erzog ihn – so wurde er der letzte Parteivorsitzende, der die internationale Arbeiterbewegung verkörperte.
Eingraviert haben sie noch einmal öffentlich mit ihren Abschiedsreden, was die fünf Jahre Altersunterschied und ihre anderen Lebensläufe ausmachten; aber auch, wie es möglich wurde, dass sie bei so viel Unvergleichlichem dennoch einen Grundakkord fanden.
Julius Leber Hundert Jahre alt wäre Julius Leber an diesem Tag geworden. Als Hauptredner zu einer Gedenkveranstaltung am 15. November 1991 in der Berliner Gethsemanekirche hatte die Friedrich-Ebert-Stiftung Willy Brandt und Helmut Schmidt (neben Björn Engholm, dem damaligen SPD-Vorsitzenden) eingeladen. Die Auswahl war wohlüberlegt. Beide verehrten den Reichstagsabgeordneten und Widerstandskämpfer, der am 5. Juli 1944 – kurz vor dem Attentatsversuch – verhaftet und am 5. Januar 1945 in Plötzensee hingerichtet worden war. Als Chefredakteur des Volksbote förderte Leber den jungen Schüler, Herbert Frahm, der bei ihm im Blatt schreiben durfte. Die Grabstätten Lebers und Brandts befinden sich auf dem Berliner Waldfriedhof Zehlendorf.
Helmut Schmidt kannte Julius Leber nicht persönlich. Aber in seinen Büros in Bonn und Berlin hing von Beginn an eine historische Aufnahme Lebers vor Freislers Volksgerichtshof. Schmidt selber war im Jahr 1943 für einen Tag zu dem Gericht abkommandiert worden und hatte vor allem das Verfahren gegen Ulrich von Hassell erlebt, das ihn aufwühlte – dieser Tag, schrieb er später, habe ihm endgültig die Augen geöffnet über den Charakter des Regimes.
In den frühen 50er Jahren war Schmidt, wie er schilderte, erstmals mit dem Vermächtnis Lebers bekannt geworden, damals dachten die Westmächte und Adenauer gerade daran, wieder deutsche Streitkräfte einzurichten. Seine Wehrübung bei der Bundeswehr wenige Jahre darauf habe er nicht aus Lust an Uniformen und Schulterstücken abgeleistet, davon hatten sie im Krieg «weiß Gott mehr als genug erlebt», sondern sie wollten in der bewussten Nachfolge Lebers «Sozialdemokratie und Soldaten miteinander versöhnen». Daher das Bild im Büro! Viele Besucher, besonders ausländische Gäste, blieben davor stehen, erinnerte er sich, so sehr fiel die eindrucksvolle Gestalt auf.
Gleich war Schmidt damit wieder bei seinem Lieblingsthema, der Warnung an die Adresse der Jungen – die Generation linker Intellektueller nach 1968 «hätte ihm wahrscheinlich den Vorwurf des Theoriedefizits gemacht». Sein Vermächtnis sei in Wahrheit geschichtsmächtiger als «alle die kunstvollen Diskurse und Debatten zwischen Kautsky und Bernstein oder zwischen den überheblichen Utopisten der 60er und 70er Jahre und denjenigen Sozialdemokraten, die damals Deutschland regiert und politisch geführt haben und die sich dafür verantworten müssen, verantworten nicht für das, was sie gedacht oder gewollt haben, sondern für das, was sie tatsächlich bewirkt haben».
All jene Prinzipien erkannte er in Julius Lebers Haltung wieder, die ihm am Herzen liegen. Besonders galt sein Respekt dem, was Leber auf dem Magdeburger Parteitag 1929 vertrat, an der Stelle zitierte Schmidt Leber wörtlich: «Die Spannung zwischen der Wehrmacht der Republik auf der einen, der Arbeiterschaft auf der anderen Seite, ist ein gewaltiger Passivposten der Republik, sie ist auch ein Passivsaldo der deutschen Sozialdemokratie.»
Seine Rede schloss er mit dem Rat, «es wäre gut, wenn die Sozialdemokratie in der letzten Dekade dieses blutigen Jahrhunderts sich bemühte, das zu werden, was man von der SPD Lübecks in den Weimarer Jahren zu sagen pflegte, nämlich: sie sei eine Leber-Partei.»[ 10 ] Brandt, dem er vor Jahren vorgeworfen hatte, unter seiner Regie drohe die SPD zu einer «Nenni-Partei» zu werden, hörte zu in der ersten Reihe.
Vor seinem inneren Auge, gleichfalls in der Gethsemanekirche, ließ Willy Brandt dagegen das Jahrhundert Revue
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