Willy Brandt und Helmut Schmidt: Geschichte einer schwierigen Freundschaft (German Edition)
sich aus eigenen Stücken bereits hineinbewegte ins Parlament. Brandt war jetzt frei. Viel zu weit gingen solche Suchbewegungen nach Helmut Schmidts Geschmack weiterhin, aber auch er war frei und ließ sich auf Parteifragen jetzt nicht mehr ein.
Träume Er sei wohl «der Europäischste» in der Troika gewesen, sagt Helmut Schmidt selbstbewusst von sich. Ein Grundkonsens in der Frage verband Brandt und ihn früh: Beide wünschten strikt ein «europäisches Deutschland», eingebettet in ein vereinigtes Europa, wie Winston Churchill das 1946 in seiner legendären Rede vor Züricher Studenten an den Horizont malte. Insbesondere vom ersten Vorsitzenden der SPD nach dem Krieg, Kurt Schumacher, hob sie das ab.
Im Dezember 1969, gleich nach seiner Wahl zum Bundeskanzler, mahnte Brandt zur Nüchternheit: Wer sich mit dem pathetischen Anspruch der Nachkriegszeit darüber hinwegsetze, dass die Geschichte der Europäischen Gemeinschaft eine der Krisen sei, lande rasch in einem «Europa der Deklamationen». Sehr konkret gehe es um Arbeitsplätze, Handelsbilanzen, das Wohl ganzer Industriezweige oder die Landwirtschaft.[ 2 ] Seit Brandt im Exil war, hatte er von Europa und einem europäischen Deutschland geträumt, als Kanzler musste er es ganz pragmatisch vorantreiben. Wie mühsam das würde, erfuhr er schon in den ersten Wochen beim Gipfel in Den Haag im Dezember 1969.
Ähnlich bei Helmut Schmidt: Er wollte schon als Finanzminister im Kabinett Brandts, erst recht aber als Kanzler aus dem Plan einer Wirtschafts- und Währungsunion Nägel mit Köpfen machen. Als Himmelsgeschenk hierfür erwies sich die Freundschaft mit Giscard d’Estaing. Der konservative Adlige und der sozialdemokratische Hanseat kooperierten bereits eng, als sie jeweils das Finanzressort leiteten (1972), im Mai 1974 rückten sie zur gleichen Zeit an die Spitze – der eine im Élysée, der andere im Kanzleramt. Dieses Duo forcierte die Idee eines Europäischen Währungssystems (EWS) als ersten Schritt zu einer gemeinsamen Währung, am 19. März 1979 trat es in Kraft.
Europa brauchte Handwerker, nicht Träumer, das war beiden klar. Und doch deutete sich in den achtziger Jahren eine Differenz an, die mit ihren disparaten Lebensgeschichten zusammenhing. Im November 1981 – sowjetische Truppen waren einmarschiert in Afghanistan und Ronald Reagan sprach über Moskau als «Reich des Bösen» – besuchte Willy Brandt Budapest zu politischen Gesprächen. Über die Zukunft Europas philosophierten Brandt und ein Dutzend ungarischer Akademiepräsidenten und Wissenschaftler beim Mittagessen im kleinen Kreis, an ein Ende des Blocksystems war nicht zu denken. Und doch, entsinne ich mich, verwickelten sich der deutsche Sozialdemokrat und die handverlesenen Budapester Intellektuellen rasch in ein Gespräch über den verbliebenen Spielraum, beispielsweise über die Chancen für ein atomwaffenfreies Europa. Sie sprachen auch darüber, ob sich Westeuropa «finnlandisieren» oder «amerikanisieren» werde, welche Chancen zur Annäherung also bestünden, oder ob Westeuropa vom Osten noch weiter wegrücke. Den Thatcherismus hielt Brandt zwar für gescheitert, ob aber der frisch gewählte François Mitterand mit seinem betont «sozialistischen» Programm in Frankreich Erfolg haben werde?
Die einst «fanatischen Deutschen», berichtete der Gast dieser Runde, die gebannt lauschte, hätten ihren Fanatismus inzwischen – mit Schmidt – in eine brave Durchwurstel-Politik umgewandelt. Außenpolitisch stünden alle loyal zu ihren Partnern, «so lange die Welt die Bündnissysteme braucht». Aber diese differenzierte Skizze Westeuropas hatte Brandt nur vorausgeschickt, um in diesem kleinen Kreis zu dem eigentlichen Kern zu kommen: Er sehe durchaus Chancen für eine «Europäisierung Europas», griff er eine Formel Peter Benders auf. Gerade das vielfältige Bild des Kontinents bestätigte ihm, dass die europäischen Entwicklungen eigenen Gesetzen folgen – wenn auch innerhalb der jeweiligen Bündnissysteme.
Europäisierung Europas? Ein europäisches Relief tauchte unversehens auf im Gespräch, in dem alles Trennende zwischen Ost und West spurlos zu verschwinden schien. Als Gedankenskizze wollte Brandt ganz offensichtlich dieses «andere» Europa schon einmal vor Augen führen, das sich abkoppelt vom drohenden Konflikt zwischen den Supermächten.
Acht Jahre später, im Sommer 1989, sollten die Ungarn als Erste den verrosteten Stacheldraht durchschneiden, der das Land von
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