Wimsey 08- Zur fraglichen Stunde
Sie trug praktische Kleidung – kurzen Rock und dünnen Pullover – und hatte in ihrem Rucksack außer Wäsche zum Wechseln und einem zweiten Paar Schuhe nicht viel mehr als eine Taschenbuchausgabe von Tristram Shandy, eine Taschenkamera, einen kleinen Verbandskasten und ein paar Butterbrote.
Etwa um Viertel vor eins begannen diese Butterbrote Harriets Gedanken immer stärker in Anspruch zu nehmen. Sie hatte erst ungefähr acht Meilen auf ihrer Wanderung nach Wilvercombe zurückgelegt, weil sie sich Zeit gelassen und dazu noch einen Umweg gemacht hatte, um einige Überreste aus der Römerzeit zu besichtigen, die laut Reiseführer »von besonderem Interesse« waren. Jetzt wurde sie langsam müde und hungrig und begann sich nach einem geeigneten Plätzchen für die Mittagsrast umzusehen.
Die Ebbe war fast auf dem niedrigsten Stand, und der feuchte Sand schimmerte golden und silbern im trägen Mittagslicht. Unten am Strand müßte es schön sein, dachte Harriet. Vielleicht könnte man sogar baden, – obwohl sie sich da ihrer Sache nicht allzu sicher war, denn sie hatte eine gesunde Furcht vor unbekannten Stränden und unberechenbaren Strömungen. Es konnte jedoch nicht schaden, sich einmal an Ort und Stelle umzusehen. Sie stieg über das Mäuerchen hinweg, das die Straße auf der Seeseite begrenzte, und machte sich auf die Suche nach einer Abstiegsmöglichkeit. Auf einer kurzen Kletterpartie zwischen den mit Büscheln von Skabiosen und Strandnelken bestandenen Felsen hindurch gelangte sie ohne große Mühe zum Strand. Sie landete in einer kleinen Bucht hinter einem Felsvorsprung, angenehm windgeschützt, wo einige Gesteinsbrokken herumlagen, die ausgezeichnete Rückenlehnen boten. Sie suchte sich das bequemste Plätzchen aus, holte die Butterbrote und den Tristram Shandy aus dem Rucksack und machte es sich gemütlich.
Nichts wirkt so einschläfernd wie ein warmer, sonnenbeschienener Strand nach einer Mahlzeit; und Tristram Shandy ist nicht gerade so tempogeladen, daß er die Lebensgeister mit Macht wachhalten würde. Das Buch entglitt Harriets Fingern. Zweimal schreckte sie auf und fing es wieder; beim drittenmal merkte sie nichts mehr davon. Den Kopf in höchst unvorteilhafter Stellung vornübergeneigt, döste sie ein.
Plötzlich erwachte sie von etwas wie einem Ruf oder Schrei, der aus unmittelbarer Nähe direkt in ihr Ohr zu dringen schien. Als sie sich blinzelnd hochrappelte, segelte kreischend eine Möwe dicht über ihren Kopf hinweg und schwebte dann über einem heruntergefallenen Butterbrotrest in der Luft. Harriet schüttelte sich, verärgert über sich selbst, und sah auf die Uhr. Es war zwei Uhr. Immerhin, vermerkte sie mit Genugtuung, allzu lange konnte sie nicht geschlafen haben. Sie stand auf und klopfte die Krümel von ihrem Rock. Auch jetzt noch verspürte sie keinen großen Tatendrang; schließlich blieb ihr reichlich Zeit, um vor Einbruch der Nacht in Wilvercombe zu sein. Sie sah zum Ufer hin, einem langgezogenen Geröllgürtel, abgelöst von einem schmaleren Sandstreifen, der sich leuchtend und unberührt bis zum Wasser erstreckte.
Ein unberührter Sandstrand hat etwas an sich, das bei Kriminalschriftstellern die schlimmsten Instinkte weckt. Man fühlt den unwiderstehlichen Drang, überall Fußspuren zu hinterlassen. Der professionell geschulte Verstand entschuldigt das vor sich selbst mit der Begründung, daß dieser Sand eine großartige Gelegenheit zum Beobachten und Experimentieren biete. Auch Harriet kam nicht dagegen an. Sie beschloß, ihren Weg über diesen verlokkenden Streifen Sand fortzusetzen. Also sammelte sie ihre Siebensachen ein und überquerte das Geröll, wobei sie, wie schon öfter, die Beobachtung machte, daß in dem trockenen Untergrund oberhalb der Hochwassermarke keine erkennbaren Abdrücke zurückblieben.
Bald verriet ein schmaler Streifen von Muschelscherben und halbvertrocknetem Seetang, daß die Hochwassermarke erreicht war.
»Ob ich hier wohl das ein oder andere über den Stand der Gezeiten ablesen kann?« sagte Harriet zu sich selbst. »Mal sehen. Bei Nippflut steigt und fällt das Wasser nicht so sehr wie bei Springflut. Wenn also heute Nippflut wäre, müßten hier zwei Streifen zu sehen sein, ein trockener oben von der letzten Springflut und ein feuchter weiter unten, der die heutige Tagesleistung anzeigt.« Sie blickte sich um. »Nein, es ist nur einer zu sehen. Daraus schließe ich, daß ich gerade bei höchster Springflut hier angekommen bin, falls das der
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