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Wimsey 08- Zur fraglichen Stunde

Wimsey 08- Zur fraglichen Stunde

Titel: Wimsey 08- Zur fraglichen Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dorothy L. Sayers
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Robert Templetons ungeachtet, hatte sie es als selbstverständlich angesehen, daß der elegant gekleidete junge Mann an diesen wenig zu ihm passenden, einsamen Ort gekommen war, um Selbstmord zu begehen. Dann war es aber doch recht sonderbar, daß er Handschuhe trug. Er hatte zusammengekrümmt dagelegen, die Arme unterm Körper, und die Handschuhe waren blutgetränkt. Harriet wollte ihm einen von der Hand ziehen, aber wieder wurde sie von Übelkeit überkommen. Sie sah, daß es locker sitzende, gelbbraune Lederhandschuhe von guter Qualität waren, passend zur übrigen Gewandung.
    Selbstmord – mit Handschuhen an? Warum war sie überhaupt so sicher gewesen, daß es Selbstmord war? Das mußte doch einen Grund haben.
    Aber ja, natürlich. Wenn es kein Selbstmord war, wo war dann der Mörder geblieben? Sie wußte, daß er nicht aus Richtung Lesston Hoe am Strand entlang gekommen sein konnte, denn sie erinnerte sich genau an den glänzenden, unberührten Sandstreifen. Von der Steilküste führte nur ihre eigene Spur hierher. Aus Richtung Wilvercombe war der Sand wieder unberührt, bis auf eine einzige Fußspur – die des Toten vermutlich.
    Der Mann war demnach allein an den Strand heruntergekommen. Sofern ein Mörder nicht vom Meer hergekommen war, mußte er auch noch allein gewesen sein, als er starb. Wie lange war er schon tot? Die Flut hatte erst vor kurzem gewendet, und der Sand wies keinen Abdruck von einem Bootskiel auf. Von der Seeseite her hätte bestimmt niemand diesen Felsen erklettern können. Vor wie langer Zeit war der Wasserstand so hoch gewesen, daß man mit einem Boot nah genug an die Leiche herankam?
    Harriet wünschte, sie hätte sich mit den Gezeiten besser ausgekannt. Wenn Robert Templeton im Laufe seiner glänzenden Karriere je einen Fall hätte lösen müssen, der am Meer spielte, hätte sie sich die erforderlichen Informationen beschaffen müssen. Aber sie war solchen Meeres- und Küstenproblemen immer ausgewichen, eben weil sie diese Arbeit scheute. Zweifellos wußte der vorbildliche Robert Templeton alles, was es da zu wissen gab, aber leider blieb dieses Wissen fest hinter seiner Denkerstirn verborgen. Also dann – wie lange war dieser Mann jetzt schon tot?
    Auch das hätte Robert Templeton natürlich gewußt, denn er hatte unter anderem auch Medizin studiert, und außerdem ging er nie ohne Fieberthermometer und sonstige Hilfsmittel aus, mit denen man Frische oder Nichtfrische einer Leiche einwandfrei feststellen konnte. Aber Harriet hatte weder ein Thermometer bei sich noch hätte sie, wenn sie eins gehabt hätte, gewußt, wie sie es zu dem angestrebten Zweck hätte verwenden sollen. Robert Templeton pflegte leichten Sinnes zu sagen: »Anhand des Stadiums der Leichenstarre und der Körpertemperatur würde ich die Todeszeit auf soundsoviel Uhr festsetzen«, ohne auf unwichtige Einzelheiten wie Gradangaben über die gemessene Temperatur näher einzugehen. Von Leichenstarre war hier nichts zu merken – natürlich nicht, denn (soviel wußte Harriet immerhin) sie setzt gewöhnlich erst vier bis zehn Stunden nach dem Tod ein. Der blaue Anzug und die braunen Schuhe waren allem Anschein nach nicht mit Meerwasser in Berührung gekommen; der Hut lag noch auf dem Felsen. Vor vier Stunden mußten dieser Felsen und der Sand, wo die Fußabdrücke zu sehen waren, unter Wasser gestanden haben. Die Tragödie hatte sich also später ereignet. Sie legte die Hand auf die Leiche. Sie kam ihr ziemlich warm vor. Aber an so einem sengend heißen Tag war alles warm. Hinten und oben fühlte der Kopf sich fast so heiß an wie der Felsen. Die nach unten gekehrte Seite war kühler, da sie im Schatten lag, jedoch nicht kühler als ihre Hände, die sie eben im Meer gewaschen hatte.
    Halt – es gab doch etwas, woran sie sich halten konnte. Die Waffe. Keine Waffe, kein Selbstmord – das war ein unumstößliches Gesetz. In den Händen war nichts – keine im »Todesgriff« umklammerte Waffe, die dem Detektiv so oft die Wahrheit verriet. Der Mann war vornübergefallen – einen Arm zwischen Körper und Felsen, den andern, den rechten, über der Felskante, gleich unter seinem Gesicht. Und unter dieser Hand lief auch das Blut so abstoßend häßlich ins Wasser hinunter und färbte es rot. Wenn hier irgendwo eine Waffe war, dann lag sie da unten. Harriet zog Schuhe und Strümpfe aus, krempelte einen Ärmel bis zum Ellbogen hoch und tastete vorsichtig in dem am Fuß des Felsens etwa einen halben Meter tiefen Wasser herum. Sie

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