Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wimsey 08- Zur fraglichen Stunde

Wimsey 08- Zur fraglichen Stunde

Titel: Wimsey 08- Zur fraglichen Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dorothy L. Sayers
Vom Netzwerk:
setzte die Füße behutsam auf, um nicht etwa in eine Messerklinge zu treten, und das war gut so, denn bald erfühlte ihre Hand etwas Hartes, Scharfes. Es kostete sie einen kleinen Schnitt am Finger, das geöffnete, schon halb im Sand vergrabene Rasiermesser hervorzuziehen.
    Da war also die Waffe; demnach schien es doch ein Selbstmord zu sein. Harriet hielt das Rasiermesser in der Hand und fragte sich, ob sie auf der nassen Oberfläche Fingerabdrücke hinterließ. Natürlich hatte der Selbstmörder keine hinterlassen, denn er trug ja Handschuhe. Aber noch einmal: wozu diese Vorsichtsmaßnahme? Daß man zu einem Mord Handschuhe trägt, ist ja verständlich, aber wozu bei einem Selbstmord? Harriet stellte dieses Problem vorläufig zurück und wickelte das Messer in ihr Taschentuch.
    Die Flut stieg unaufhaltsam. Was konnte sie sonst noch tun? Sollte sie die Anzugtaschen durchsuchen? Sie hatte nicht die Kraft eines Robert Templeton, um die Leiche bis hinter die Hochwassermarke zu schleppen. Eigentlich war das Durchsuchen ja auch die Sache der Polizei, wenn sie den Leichnam holte, aber möglicherweise hatte der Mann Papiere bei sich, die vom Wasser unleserlich gemacht würden. Sie befühlte vorsichtig die Jackentaschen, aber anscheinend hatte der Tote zuviel Wert auf den Sitz seines Anzugs gelegt, um allzuviel darin herumzutragen. Sie fand nur ein seidenes Taschentuch mit Wäschereizeichen und ein dünnes, goldenes Zigarettenentui in der rechten Tasche; die andere war leer. Die äußere Brusttasche enthielt ein blaßlila seidenes Taschentuch, das wohl mehr zur Zierde als zum Gebrauch bestimmt war; die Gesäßtasche war leer. An die Hosentasche wäre sie nicht herangekommen, ohne den Toten hochzuheben, was sie aus verschiedenerlei Gründen nicht tun mochte. Natürlich war für Papiere die innere Brusttasche da, aber Harriet brachte es nicht über sich, dorthin zu fassen. Diese Stelle schien nämlich den vollen Blutstrahl aus dem Hals abbekommen zu haben. Vor sich selbst entschuldigte Harriet sich damit, daß alle in dieser Tasche etwa vorhandenen Papiere ohnehin schon unleserlich sein würden. Eine feige Ausrede, mag sein – aber so war es nun mal. Sie konnte sich nicht überwinden, hineinzufassen.
    Sie verstaute das Taschentuch und das Zigarettenetui und sah sich noch einmal um. Meer und Sand waren so verlassen wie zuvor. Immer noch strahlte die Sonne, aber draußen auf See begannen sich dicke Wolken am Horizont aufzutürmen. Der Wind hatte inzwischen nach Südwesten gedreht und wurde mit jeder Sekunde stärker. Es sah so aus, als sollte das schöne Wetter nicht mehr lange dauern.
    Sie mußte sich noch die Fußabdrücke des Toten ansehen, bevor die Flut sie auslöschte. Da fiel ihr plötzlich ein, daß sie ja eine Kamera bei sich hatte. Sie war zwar nur klein, hatte aber immerhin eine Entfernungseinstellung, mit der man bis zu einem Meter achtzig an das Objekt herangehen konnte. Harriet nahm die Kamera aus dem Rucksack und machte ein paar Aufnahmen vom Felsen und der Leiche aus verschiedenen Winkeln. Der Kopf des Toten lag noch so, wie er gefallen war, nachdem sie ihn losgelassen hatte – ein wenig zur Seite geneigt, so daß man gerade noch die Gesichtszüge aufs Bild bekommen konnte. Sie stellte die Kamera auf die kürzestmögliche Entfernung ein und knipste das Gesicht. Jetzt hatte sie noch vier Bilder auf dem Film. Mit einem schoß sie eine Totalaufnahme von der Küste, mit der Leiche im Vordergrund, wofür sie ein paar Schritte vom Felsen zurücktrat. Mit dem zweiten nahm sie die Fußspur auf, die von dem Felsen quer über den Sand in Richtung Wilvercombe verlief. Und als drittes machte sie eine Nahaufnahme von einem der Fußabdrücke, wofür sie die Kamera hoch über den Kopf hielt und so gerade wie möglich nach unten richtete.
    Sie sah auf die Uhr. Für das alles hatte sie zwanzig Minuten gebraucht, gerechnet von dem Zeitpunkt an, als sie die Leiche zuerst erblickt hatte. Sie fand, wenn sie schon einmal dabei war, könne sie sich auch gleich noch vergewissern, ob die Fußabdrücke überhaupt zu dem Toten gehörten. Sie zog ihm also einen Schuh ab und stellte dabei fest, daß an den Sohlen zwar Spuren von Sand, am Oberleder aber keinerlei Meerwasserflecken waren. Sie stellte den Schuh in einen der Abdrücke und sah, daß beide haargenau zueinander paßten. Da sie keine Lust hatte, den Schuh wieder über den Fuß zu ziehen, nahm sie ihn mit, und als sie wieder den Geröllstreifen erreichte, blieb sie kurz stehen,

Weitere Kostenlose Bücher