Wimsey 08- Zur fraglichen Stunde
richtige Ausdruck dafür ist. Ganz einfach, mein lieber Watson. Unterhalb der Hochwassermarke beginne ich jetzt deutliche Fußspuren zu hinterlassen. Da ich keine anderen sehe, muß ich der einzige Mensch sein, der diesem Strand seit der letzten Flut die Ehre gibt, und die war vor etwa – aha! Da fängt’s an schwierig zu werden. Ich weiß zwar, daß zwischen einer Flut und der nächsten etwa zwölf Stunden liegen, aber ich habe nicht die leiseste Ahnung, ob das Wasser im Augenblick fällt oder steigt. Immerhin weiß ich, daß es die längste Zeit, während ich oben an der Küste entlangwanderte, zurückgewichen ist, und jetzt scheint es ganz schön weit weg zu sein. Wenn ich also sage, daß seit mindestens fünf Stunden keiner mehr hier war, dürfte ich damit nicht ganz verkehrt liegen. Ich hinterlasse jetzt sehr schöne Fußspuren, natürlich – der Sand wird immer nasser. Mal sehen, was herauskommt, wenn ich laufe.«
Sie hüpfte ein paar Schritte und sah, daß jetzt die Fußspitzen tiefer eingedrückt waren und sie mit jedem Schritt Sandbrocken hochgeworfen hatte. Dieser Energieausbruch hatte sie um den Ausläufer der Steilküste herum in eine viel größere Bucht geführt, deren einzig auffälliges Merkmal ein großer Felsbrocken war, der hinter der Felszunge dicht beim Wasser stand. Er war ungefähr dreieckig, ragte etwa drei Meter weit aus dem Wasser und schien von einem merkwürdig geformten Klumpen Seetang gekrönt zu sein.
Ein einsamer Felsbrocken hat immer etwas Anziehendes. Jeden rechtschaffenen Menschen überkommt der brennende Wunsch, hinaufzusteigen und sich daraufzusetzen. Harriet ging einfach auf den Felsen zu, ohne sich erst einen Grund dafür auszudenken, und versuchte unterwegs noch ein paar Schlüsse zu ziehen.
»Ist der Felsen bei Hochwasser überflutet? Aber natürlich, sonst wäre ja kein Seetang drauf. Außerdem spricht das Gefälle des Strands dafür. Ich wollte, ich könnte Entfernungen und Winkel besser schätzen! Aber ich würde sagen, er gerät ziemlich tief unter Wasser. Komisch, daß der Seetang so in einem einzigen Klumpen darauf liegt. Man sollte ihn eher untenherum erwarten, aber die Seiten scheinen fast bis zum Wasser hinunter völlig frei zu sein. Es ist doch Seetang? Komisch sieht er schon aus. Fast als ob da ein Mensch läge. Kann Seetang überhaupt so – na ja, so auf einem dicken Haufen liegen?«
Sie betrachtete den Felsen mit wachsender Neugier und redete die ganze Zeit laut mit sich selbst, was eine etwas irritierende Angewohnheit von ihr war.
»Hol mich der Kuckuck, wenn da nicht ein Mensch liegt! Aber eine blöde Stelle hat er sich ausgesucht. Er muß sich ja vorkommen wie ein Pfannkuchen auf der Herdplatte. Bei einem Sonnenanbeter könnte ich das ja verstehen, aber er scheint seine sämtlichen Kleider anzuhaben. Einen dunklen Anzug sogar. Ganz still liegt er da. Wahrscheinlich eingeschlafen. Wenn die Flut schnell hereinkommt, schneidet sie ihm den Weg ab – wie in diesen albernen Illustriertengeschichten. Na, jedenfalls werde ich ihn nicht retten. Er wird eben die Socken ausziehen und ein bißchen im Wasser herumpatschen müssen. Er hat ja auch noch ein Weilchen Zeit.«
Sie wußte nicht recht, ob sie weiter zu dem Felsen hinuntergehen sollte. Eigentlich mochte sie den Schläfer nicht wecken und sich in ein Gespräch verwickeln lassen. Gewiß war er zwar nur ein vollkommen harmloser Spaziergänger, aber ebenso gewiß war er auch vollkommen uninteressant. Dennoch ging sie grübelnd näher und übte sich derweil noch ein bißchen im Kombinieren.
»Er muß ein Tourist sein. Die Einheimischen halten ihre Siesta nicht auf einem harten Felsbrocken. Sie ziehen sich in ihre Häuser zurück und verrammeln alle Fenster. Und ein Fischer oder etwas derartiges kann er auch nicht sein; die haben keine Zeit für Mittagsschläfchen. So was tun nur die Angehörigen der Stehkragenberufe. Sagen wir – ein Büro- oder Bankangestellter. Aber die gehen gewöhnlich mit der ganzen Familie in Urlaub, während der da ein Einzelgänger zu sein scheint. Ein Schulmeister? Kaum. Schulmeister werden erst gegen Ende Juli von der Kette gelassen. Aber vielleicht ein Student? Die Semesterferien haben gerade erst begonnen. Offenbar ein Herr ohne geregelte Beschäftigung. Möglicherweise ein Wanderer, wie ich – aber dazu paßt das Kostüm nicht.« Sie war inzwischen nähergekommen und konnte den dunkelblauen Anzug des Schläfers erkennen. »Also, ich kann ihn nirgends unterbringen, aber Dr.
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