Wimsey 08- Zur fraglichen Stunde
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Das Zeugnis des Leichnams
Der Pfad war schlüpfrig vom sprudelnden Blute.
RODOLPH
DONNERSTAG, 18. JUNI
Die beste Arznei für ein wundes Herz ist nicht, wie so viele meinen, eine männlich breite Brust zum Anlehnen. Weit heilsamer sind ehrliche Arbeit, Bewegung oder unverhoffter Reichtum. Nach ihrem Freispruch von der Anklage des Mordes an ihrem Geliebten, eigentlich sogar infolge dieses Freispruchs, sah Harriet Vane sich überreichlich im Besitz aller drei dieser Mittel; und mochte Lord Peter Wimsey ihr auch in rührender Treue zur Tradition tagaus, tagein seine Brust zur Probe präsentieren, so zeigte sie doch keine Neigung, sich daran auszuruhen.
Arbeit hatte sie übergenug. Es ist für einen Autor von Detektivgeschichten keine schlechte Reklame, einmal wegen Mordes vor Gericht gestanden zu haben. Harriet-Vane-Krimis standen hoch im Kurs. Sie hatte sowohl auf dem alten wie dem neuen Kontinent sensationelle Verträge abgeschlossen und war daher mit einem Schlag sehr viel reicher, als sie je zu hoffen gewagt hätte. In einer Arbeitspause zwischen Mord auf Raten und Das Geheimnis des Füllfederhalters hatte sie eine einsame Wandertour angetreten: viel Bewegung, keine Pflichten, keine nachgeschickte Post. Es war Juni, und das Wetter hätte nicht schöner sein können; und wenn sie hin und wieder daran dachte, wie Lord Peter Wimsey jetzt emsig an ihrer leeren Wohnung klingeln würde, ließ sie sich davon weder aus der Ruhe bringen noch in ihrem stetigen Kurs entlang der englischen Südwestküste im geringsten beirren.
Am Morgen des 18. Juni brach sie von Lesston Hoe auf, um über die Steilküste nach dem sechzehn Meilen entfernten Wilvercombe zu wandern. Nicht, daß sie auf Wilvercombe mit seiner saisonbedingten Bevölkerung aus alten Damen und Invaliden und seinen bescheidenen, selbst ein wenig invalide und altdamenhaft wirkenden Vergnügungsangeboten besonders gespannt gewesen wäre. Aber die Stadt war ein bequemes Tagesziel, und zur Nacht konnte man sich ja immer noch weiter draußen auf dem Lande einquartieren. Die Straße folgte gemächlich dem oberen Rand einer niedrigen Steilküste, von wo man auf den langgezogenen gelben Strand hinunterblickte, dessen Eintönigkeit von vereinzelten Felsen unterbrochen wurde, die, im Sonnenlicht blitzend, nach und nach aus der zögernd zurückweichenden Flut auftauchten.
Droben wölbte sich der Himmel zu einer riesenhaften Kuppel von reinem Blau, nur da und dort mit einem ganz leichten Muster von sehr hohen, wie higehauchten weißen Wölkchen überzogen. Ein sanfter Wind wehte von Westen, allerdings wäre einem Wetterkundigen die Neigung zum Auffrischen darin vielleicht nicht entgangen. Die schmale, holprige Straße war nahezu leer, denn der gesamte lebhaftere Verkehr lief über die breite Hauptstraße, die sich ein gutes Stück weiter landeinwärts von Stadt zu Stadt zog und die Küste mit ihrem gewundenen Verlauf und ihren wenigen kleinen, verstreut gelegenen Ansiedlungen links liegen ließ. Da und dort kam Harriet an einem Viehhirten mit seinem Hund vorbei, Mensch und Tier gleichermaßen teilnahmslos und mit sich selbst beschäftigt; da und dort hoben ein paar weidende Pferde die Köpfe, um ihr aus scheuen, blöden Augen nachzublicken; da und dort wurde sie von dem lauten Keuchen einer Herde Kühe begrüßt, die ihre Kinnladen auf den Steinwällen rieben. Draußen auf dem Wasser unterbrach dann und wann das weiße Segel eines Fischerboots die Leere des Horizonts.
Abgesehen von vereinzelten Lieferwagen, einem klapprigen Morris und den in Abständen sich zeigenden Dampfwolken ferner Lokomotiven, war die Gegend genauso ländlich-unberührt, wie sie es schon vor zweihundert Jahren gewesen sein mochte.
Harriet schritt kräftig aus; ihr leichter Rucksack behinderte sie kaum. Sie war achtundzwanzig Jahre alt, dunkelhaarig und von grazilem Körperbau; von Natur aus hellhäutig, hatte sie jetzt unter dem Einfluß von Sonne und Wind eine ansprechende Karameltönung angenommen. Menschen mit diesem glücklichen Teint werden weder von Mücken noch vom Sonnenbrand geplagt, und Harriet war zwar noch nicht so alt, daß sie auf ihr Aussehen keinen Wert mehr gelegt hätte, doch immerhin schon alt genug, um der Bequemlichkeit den Vorzug vor Äußerlichkeiten zu geben. Darum schleppte sie keine Hautcremes, Insektensalben, Seidenblusen, elektrischen Reisebügeleisen oder sonstigen Ballast mit sich, wie er in der Zeitung auf der »Seite für den Wanderer« so gern angepriesen wird.
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