Wind über den Schären: Liebesgeschichten aus Schweden (German Edition)
E s hatte zwei Tage lang ununterbrochen geregnet. Lasse hatte mehrfach seine Sorge geäußert, das Tennisturnier könnte abgesetzt werden, doch heute schien zum Glück endlich die Sonne wieder von einem strahlend blauen Himmel. Jetzt war es Valerie, die sich Sorgen machte, sie könnte ihrem Sohn das Turnier verderben.
Sie hatte ihm versprochen, pünktlich zu sein, hatte das Gericht aber wie so oft viel zu spät verlassen. Eigentlich hatte sie so etwas schon geahnt, als sie gelesen hatte, dass Torvid Persson den Vorsitz über die heutige Verhandlung haben würde. Richter Persson neigte zu moralisierenden Vorträgen, wenn ihm die Haltung eines Verfahrensbeteiligten nicht gefiel – und die konnten dauern.
Heute hatte der Mandant der Gegenseite das Missfallen des Richters erregt, und Valerie konnte sicher sein, dass sie den Prozess für ihren Mandanten gewonnen hatte, auch wenn das Urteil erst in ein paar Tagen gefällt werden würde. Sie war quasi mit dem Schlusswort aus der Verhandlung gestürzt und saß nun endlich in ihrem Wagen auf dem Weg zum Turnierplatz.
Das Gerichtsgebäude lag auf Riddarholmen. Wie üblich staute sich um diese Zeit der Verkehr auf der Centralbron. Der Riddarfjärden glitzerte im Sonnenlicht, Ausflugsdampfer glitten über die Wasseroberfläche. Auf der gegenüberliegenden Seite funkelten die drei Kronen auf dem Dach des Rathausturmes. Die Aussicht von dort oben auf Gamla Stan, die Altstadt Stockholms, war atemberaubend, Valerie hatte sie mehr als einmal genießen dürfen.
Jetzt allerdings nahm sie all das nicht wahr. Sie kam nur im Schritttempo voran, während sie gleichzeitig beruhigend auf ihren Sohn am anderen Ende der Leitung einsprach, der ihr wiederholt immer drängendere Nachrichten auf der Mailbox hinterlassen hatte.
»Jetzt reg dich bitte nicht auf, Schatz«, bat sie. »Ich bin ja gleich da.« Tatsächlich löste sich in diesem Moment der Stau auf, und sie gab Gas. Dabei dachte sie kurz an den Brief in ihrer Tasche. Er sollte eine Überraschung für Lasse sein, der ebenso gespannt auf diese Antwort gewartet hatte wie sie selbst. Und jetzt würde sie vor dem Tennisspiel wahrscheinlich keine Zeit mehr haben, ihm davon zu berichten.
Lasse schimpfte am anderen Ende der Leitung ungeduldig weiter, und Valerie fragte sich nicht zum ersten Mal, warum sie ihrem Sohn zu seinem zwölften Geburtstag ein Handy geschenkt hatte. Natürlich hatte sie ihm seinen größten Wunsch nicht abschlagen wollen, und eigentlich war es ja auch eine gute Idee gewesen, weil es ihr die Möglichkeit gab, schnell zu überprüfen, wo er war und ob es ihm gut ging. Sie steckte in dem nie enden wollenden Dilemma einer alleinerziehenden Mutter, die zwischen Beruf und Kindererziehung hin und her pendelte. Mit dem beständig schlechten Gewissen, dass dabei eine Seite zu kurz kam.
Nicht bedacht hatte Valerie allerdings, dass die Kontrolle auch andersherum funktionierte. Gerade beschwerte sich Lasse, dass sie ständig erst im letzten Moment auftauchte.
Valerie seufzte. »Ich hasse es ja auch, immer in letzter Minute zu kommen, aber ich konnte schließlich nicht einfach aus der Gerichtsverhandlung stürmen. Mach dir keine Sorgen, ich bin gleich da«, sagte sie und beendete das Gespräch.
Sie bog in die schmale Zufahrt zum Tennisplatz ein und parkte ihr Cabrio direkt vor dem Eingang, wo ein Schild auf das absolute Halteverbot aufmerksam machte. Egal.
Lasse hatte auf einem großen Stein gewartet und sprang nun herunter. Er hatte sich bereits umgezogen, die Tasche mit dem Schläger baumelte über seiner Schulter, als er jetzt auf seine Mutter zulief.
»Mama, na endlich!« Die Erleichterung war seiner Stimme deutlich anzuhören.
»Entschuldige bitte«, sagte Valerie und stieg eilig aus dem Wagen.
Lasse nahm ihre Hand und zog sie durch das Eingangstor, das in die steinerne Mauer eingelassen war, die den Club umgab. Der Kies knirschte unter ihren Füßen. Der Weg führte an sorgfältig gepflegten Blumenrabatten vorbei, Rhododendron und Rosen blühten in verschwenderischer Fülle. Seine Miene war finster. »Ich hasse Gerichte. Warum können Menschen sich nicht einfach so einigen?«
»Super Idee!« Valerie grinste und strich ihrem Sohn liebevoll über die Haare. Wenn das Leben doch so einfach wäre! »Allerdings wäre ich dann arbeitslos.« Sie blieb kurz stehen und zog den Brief aus ihrer Handtasche, den sie am Morgen aus dem Briefkasten geholt hatte. »Aber vielleicht wird ja trotzdem bald alles anders«, sagte sie
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