Windkämpfer
zerbrochener Keks geblieben.
Der Arzt beachtete beides nicht, deutete aber auf die Teekanne. Vorsichtig füllte Pazel eine Tasse. Der Arzt umfasste sie mit seinen langen Fingern, hob sie an die Lippen und atmete den Dampf ein, wie er es Pazel einmal geraten hatte, ›um bei kaltem Wetter die Nüstern zu beleben‹. Dabei sah er den Jungen nicht an, und Pazel wusste nicht, ob er bleiben oder gehen sollte. Endlich begann der Arzt leise zu sprechen.
»Du bist nicht krank?«
»Nein«, antwortete Pazel.
»Deine Hirnkrämpfe?«
»Davon bin ich geheilt«, sagte Pazel rasch. Er war froh, dass sie unter sich waren. Auf der Eniel wusste niemand von seinen Hirnkrämpfen.
»Geheilt?«, fragte der Arzt. »Wie hast du das geschafft?«
Pazel zuckte die Achseln. »Ich habe mir in Sorhn ein Mittel gekauft. Alle Welt geht für solche Dinge nach Sorhn.«
»Aber nicht alle Welt steht unter dem Einfluss eines Zaubers«, gab Chadfallow zurück. »Wie viel hat man dir für dieses … Mittel abgeknöpft?«
»Alles … was ich hatte«, gestand Pazel und runzelte die Stirn. »Aber es war jeden Groschen wert. Ich würde es sofort wieder tun.«
Chadfallow seufzte. »Das kann ich mir denken. Und was ist mit deinen Zähnen?«
Erschrocken über den jähen Wechsel schaute Pazel auf: Seine Hirnkrämpfe waren das Lieblingsthema des Arztes. »Mit meinen Zähnen ist alles in Ordnung«, sagte er vorsichtig.
»Das ist gut. Mit diesem Tee nämlich nicht. Koste einmal.«
Chadfallow reichte ihm die Tasse und beobachtete, wie er trank.
Pazel schnitt eine Grimasse. »Er ist bitter«, sagte er.
»Bitterer für dich als für mich. Jedenfalls wird es dir so vorkommen.«
»Was soll das heißen?«, fragte Pazel und hob in seiner Verwirrung die Stimme. »Warum sind heute alle so komisch !«
Aber wie die Herzogin und der Seifenhändler wandte sich auch Chadfallow nur ab und schaute aufs Meer hinaus. Und während der gesamten nächtlichen Überfahrt zeigte er für Pazel nicht mehr Interesse als für die geschäftigen Matrosen, die ihn umringten.
* * *
Sechs Stunden später sah Pazel – todmüde, triefend nass und durchfroren bis auf die Knochen – die Schiffswerft vor sich aufragen. Sie waren nur wenige Minuten vom Hafen entfernt, und der Mond schien immer noch.
Pazel wusste, dass es töricht gewesen war, von Chadfallow eine bessere Behandlung zu erwarten. Der Arzt war seit der Invasion Ormaels, die er als Sondergesandter des Kaisers unmittelbar erlebt hatte, wie umgewandelt. Die Grausamkeiten hatten ihn zum Griesgram gemacht, die Quelle, aus der er einst seine menschliche Wärme bezogen hatte, schien versiegt. Bei ihrer letzten Begegnung vor zwei Jahren hatte er so getan, als hätte er Pazel noch nie gesehen.
Aber warum war er jetzt hier, am Abend, bevor die Chathrand auf große Fahrt gehen sollte? Immer wenn der Arzt auftauchte, stand Pazel ein verheerender Umbruch in seinem Leben bevor. Das würde heute nicht anders sein, dachte er, und so trieb er sich am Fockmast herum, um zu sehen, was Chadfallow tun würde.
Vom Ufer rief eine Stimme herüber: »Wenden, Eniel! Wenden und abdrehen. Hafen überfüllt!«
Kapitän Nestef brüllte zurück: »Aye, Sorrophran !« und riss das Steuer herum. Der Bootsmann rief ein Kommando, die Männer sprangen nach den Seilen, und die weißen Segel der Eniel wurden eingerollt. Sie glitt langsam an den Trockendocks von Sorrophran vorbei, an langen Reihen von Kriegsschiffen mit gepanzertem Bug und Schanzkleidern voller Eisenspitzen, an der Krabbenflotte und an den Nunekkam-Hausbooten mit ihren Kuppeln aus Porzellan. Dann ging, ausgestoßen von Offizieren, Matrosen und Teerjungen, ein Seufzer der Bewunderung über das Deck. Die Chathrand war in Sicht gekommen.
Kein Wunder, dass der Hafen voll war! Die Chathrand allein füllte ihn ja fast ganz aus. Jetzt, da Pazel sie im Mondlicht deutlich sehen konnte, erschien sie ihm nicht wie für Menschen, sondern für Riesen gebaut. Die Großmastspitze der Eniel reichte kaum bis zu ihrem Achterdeck, und der Matrose oben in der Quersaling war nicht größer als eine Möwe. Ihre Masten erinnerten Pazel an die Türme der Könige von Noonfirth über den schwarzen Klippen von Pól. Neben ihr wirkten selbst die Kaiserlichen Kriegsschiffe wie Spielzeug.
»Sie ist die Letzte ihrer Art«, sagte eine Stimme hinter ihm. »Dreh dich nicht um, Pazel.«
Pazel erstarrte, eine Hand am Mast. Es war Chadfallows Stimme.
»Eine lebende Reliquie«, fuhr der Arzt fort.
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