Im Winter der Löwen
24.−26. Dezember
1
Kimmo Joentaa hatte vorgehabt, den Weihnachtsabend allein zu verbringen, aber es kam anders.
Er hatte sich frühzeitig für den 24. Dezember, wie in den Jahren zuvor, zum Dienst eingetragen und verbrachte den Tag im stillen, ausgestorben wirkenden Polizeigebäude.
Sundström weilte im Ski-Urlaub, Grönholm in Erfüllung eines lange gehegten Traumes in der Karibik, und Tuomas Heinonen ging gegen Nachmittag, um den Weihnachtsbaum zu schmücken und für die Familie die Kluft des Weihnachtsmannes überzustreifen. Er würde erreichbar sein im Falle eines Einsatzes, aber es gab keinen.
Joentaa erledigte Schreibarbeiten, die auch hätten warten können. Im Radio lief weihnachtliche Musik. Violine, Klavier und die klaren hohen Stimmen eines Kinderchores. Anschließend klärte ihn ein Philosoph und Theologe in sachlichem Ton darüber auf, dass Jesus Christus im Sommer geboren worden war. Joentaa hielt kurz inne und versuchte, sich auf die Stimme im Radio zu konzentrieren, aber es lief schon wieder Musik, eine Art Weihnachts-Rap. Er runzelte die Stirn und wendete sich wieder dem Blatt Papier zu, das vor ihm lag.
Am frühen Abend schlenderte er durch die weite Halle in die Cafeteria, die im Dunkel lag. Licht spendete nur der rot und golden geschmückte Baum, der neben dem Getränkeautomaten stand.
Jenseits der Scheiben schneite es. Joentaa setzte sich an einen der Tische. In einer Schale lagen Kekse. Sterne aus Teig. Joentaa nahm sich einen, schmeckte den Ahornsirup auf der Zunge, roch den Duft der Tannennadeln und sah im Eingangsbereich neben dem Empfang eine Frau stehen, die ihm merkwürdig erschien. Sie stand reglos. Joentaa wartete eine Weile, aber die Frau rührte sich nicht und schien sich nicht darüber zu wundern, dass der Empfang nicht besetzt war. Ebenso wenig störte sie sich daran, dass die uniformierten Polizisten, die ab und zu vorübereilten, nicht auf die Idee kamen, sie nach ihrem Anliegen zu fragen.
Die Frau betrachtete den Schneefall hinter dem Glas. Sie war klein und schmal, etwa Mitte zwanzig. Sie hatte lange, strohblonde Haare und kaute an einem Kaugummi. Sie stand unvermindert reglos, während Joentaa auf sie zuging, und auch, als er vor ihr stand und ihren Blick suchte.
»Entschuldigung?«, sagte er.
Die junge Frau wandte sich von den Fenstern ab. Ihre Wangen waren gerötet und geschwollen.
»Kann ich … alles in Ordnung?«, fragte Joentaa.
»Vergewaltigung«, sagte die Frau.
»Das …«
»Ich bin vergewaltigt worden und möchte das zur Anzeige bringen, du Idiot.«
»Entschuldigung. Kann ich … lassen Sie uns erst mal in mein Büro gehen …«
»Ari Pekka Sorajärvi«, sagte die Frau.
»Lassen Sie uns …«
»So heißt der Mann, den ich anzeigen möchte.« »Kommen Sie«, sagte Joentaa und versuchte, voranzugehen, aber die Frau rührte sich nicht.
Ihre Stimme klang sanft, als sie sagte: »Ich würde gerne bald nach Hause gehen. Können Sie nicht alles hier notieren?«
»Nein … das geht leider nicht … eigentlich müssten das ohnehin Kollegen von mir machen … ich könnte Ihre Aussage aufnehmen und dann weiterleiten, aber ich muss sie in jedem Fall in den Computer eingeben.«
Sie schien kurz zu zögern, dann folgte sie ihm zum Aufzug.
Im dritten Stock brannte schwaches Neonlicht. Aus einem Büro drang meckerndes Lachen.
»Gruselig hier«, sagte sie.
»Einige Lampen sind kaputt, sonst ist es heller«, sagte Joentaa.
»So, so«, sagte die Frau und schien zu lächeln. Joentaa war sich nicht sicher.
»Waren Sie … im Krankenhaus?«, fragte Joentaa.
»Im Krankenhaus?«
»Ja …«, sagte Joentaa.
»Halb so wild«, sagte sie. »Ich … könnte Sie später hinfahren«, sagte Joentaa. »Es ist … möglicherweise könnten auch noch … Spuren sichergestellt werden, die in einem späteren Verfahren wichtig …«
»Sie sollen einfach den Scheiß in den Computer tippen, und dann gehe ich nach Hause.«
»Entschuldigung.«
»Sie müssen sich nicht für alles und jedes entschuldigen.«
Joentaa nickte und führte sie in sein Büro. Der Computerbildschirm flimmerte. Die rote Kirche von Lenganiemi, hinter der Sanna begraben lag.
Hinter den Fenstern war die Welt dunkel und weiß. Die Frau sah ihn abwartend an.
»Entschuldigung. Setzen Sie sich doch«, sagte Joentaa.
»Könnten Sie bitte aufhören, sich für alles und jedes zu entschuldigen?«
Joentaa versuchte, sich auf den Bildschirm und die Tastatur zu konzentrieren. Er suchte eine Weile und fand schließlich
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