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Winesburg, Ohio (German Edition)

Winesburg, Ohio (German Edition)

Titel: Winesburg, Ohio (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sherwood Anderson
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er, wenn er redete, ihren Körper in Händen. Sie stellte sich vor, wie er ihn in seinen weißen Händen langsam drehte und betrachtete. Nachts träumte sie, er habe in ihren Körper gebissen und dass sein Kinn triefte. Diesen Traum hatte sie dreimal, dann geriet sie in andere Umstände von dem, der gar nichts sagte, sondern sie im Augenblick seiner Leidenschaft tatsächlich in die Schulter biss, sodass der Abdruck seiner Zähne noch tagelang zu sehen war.
    Nachdem die große dunkle Frau Doktor Reefy kennengelernt hatte, war ihr, als wollte sie ihn nie wieder verlassen. Eines Vormittags ging sie in seine Praxis, und ohne dass sie etwas sagte, schien er zu wissen, was mit ihr geschehen war.
    In der Praxis des Arztes war eine Frau, die Ehefrau des Mannes, der die Buchhandlung von Winesburg führte. Wie alle altmodischen Landärzte zog Doktor Reefy auch Zähne, und die Frau, die da wartete, hielt sich ein Taschentuch an die Zähne und stöhnte. Ihr Mann war bei ihr, und als der Zahn gezogen wurde, schrien beide, und Blut rann auf das weiße Kleid der Frau. Die große dunkle Frau beachtete es gar nicht. Als die Frau und der Mann gegangen waren, lächelte der Arzt. «Ich fahre jetzt mit Ihnen hinaus aufs Land», sagte er.
    Mehrere Wochen lang waren die große dunkle Frau und der Arzt fast täglich zusammen. Die Umstände, die sie zu ihm geführt hatten, vergingen mit einer Krankheit, doch die Frau glich nun einem, der die Süße der verwachsenen Äpfel für sich entdeckt hat, für sie gab es nun nicht mehr nur die runde, vollkommene Frucht, wie sie in den Stadtwohnungen gegessen wird. Im Herbst nach dem Beginn ihrer Bekanntschaft heiratete sie Doktor Reefy, und im darauffolgenden Frühjahr starb sie. Den Winter hindurch las er ihr alle kleinen Gedankenschnipsel vor, die er auf die Papierchen notiert hatte. Nachdem er sie vorgelesen hatte, lachte er und steckte sie in seine Taschen, wo sie dann zu harten, runden Kugeln wurden.

MUTTER
    Elizabeth Willard, die Mutter George Willards, war groß und hager, und ihr Gesicht war von Pockennarben gezeichnet. Obwohl erst fünfundvierzig, hatte eine obskure Krankheit ihrer Gestalt das Feuer genommen. Teilnahmslos ging sie in dem unordentlichen alten Hotel herum und betrachtete die verblichenen Tapeten und die abgewetzten Teppiche und verrichtete, sofern sie aufstehen konnte, zwischen vom Schlummer dicker Handelsvertreter verschmutzten Betten die Arbeit eines Zimmermädchens. Ihr Ehemann, Tom Willard, ein schlanker, eleganter Mann mit breiten Schultern, raschem, militärischem Gang und einem schwarzen Schnurrbart, dessen Spitzen scharf nach oben zeigten, bemühte sich, seine Frau aus seinen Gedanken zu verbannen. Diese große, geisterhafte Gestalt, wie sie langsam durch die Gänge schlich, nahm er als persönlichen Vorwurf. Dachte er an sie, wurde er zornig und fluchte. Das Hotel war nicht profitabel und war ständig am Rand des Bankrotts, und er wünschte, er wäre anderswo. Er betrachtete das alte Haus und die Frau, die darin mit ihm lebte, als vernichtet und erledigt. Das Hotel, in dem er anfangs so hoffnungsfroh gelebt hatte, war nur noch ein Schatten dessen, was ein Hotel sein sollte. Wenn er herausgeputzt und geschäftsmäßig durch die
Straßen von Winesburg ging, blieb er zuweilen stehen und drehte sich rasch um, als fürchtete er, der Geist des Hotels und der Frau folgte ihm sogar noch auf die Straße.«So ein Leben, verdammt soll es sein, verdammt!», brabbelte er dann vor sich hin.
    Tom Willard hatte eine Leidenschaft für die Lokalpolitik und war seit Jahren der führende Demokrat in einer tief republikanischen Gemeinde. Eines Tages, sagte er sich, wird sich das Blatt in der Politik zu meinen Gunsten wenden, und bei der Verteilung des Lohns werden die Jahre des belanglosen Dienens viel zählen. Er träumte davon, im Kongress zu sitzen, und sogar, Gouverneur zu werden. Als ein jüngeres Parteimitglied sich einmal bei einer politischen Versammlung erhob und mit seinen treuen Diensten prahlte, wurde Tom Willard weiß vor Wut: «Halt den Mund, du», brüllte er und schaute wütend um sich. «Was weißt du schon vom Dienen? Du bist doch nichts weiter als ein Junge. Sieh dir mal an, was ich geleistet habe! Ich war in Winesburg schon Demokrat, als es noch ein Verbrechen war, Demokrat zu sein. In den alten Tagen haben sie uns schier mit der Waffe gejagt.»
    Zwischen Elizabeth und ihrem einzigen Sohn George gab es ein festes, unausgesprochenes Band der Zuneigung, das auf einem

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