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Winesburg, Ohio (German Edition)

Winesburg, Ohio (German Edition)

Titel: Winesburg, Ohio (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sherwood Anderson
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kamen junge Männer mit wohlgeformten Gliedern, manche zu Fuß, manche zu Pferd. In Scharen kamen die jungen Männer, um sich zu Füßen eines alten Mannes zu sammeln, der in einem winzigen Garten unter einem Baum saß und mit ihnen sprach.
    Wing Biddlebaum war nun richtig beseelt. Ausnahmsweise vergaß er einmal seine Hände. Langsam stahlen sie sich fort und legten sich George Willard auf die Schultern. Etwas Neues und Kühnes trat in die Stimme, die da sprach. «Du musst versuchen, alles, was du gelernt hast, zu vergessen», sagte der alte Mann. «Du musst anfangen zu träumen. Von nun an musst du die Ohren vor dem Gebrüll der Stimmen verschließen.»
    Wing Biddlebaum unterbrach seine Rede und betrachtete George Willard lang und ernst. Seine Augen loderten. Erneut hob er die Hände, um den Jungen zu streicheln, dann strich ihm Entsetzen übers Gesicht.
    Mit einer krampfartigen Körperbewegung sprang Wing Biddlebaum auf und stieß die Hände tief in die Hosentaschen. Tränen stiegen ihm in die Augen. «Ich muss mich auf den Heimweg machen. Ich kann nicht weiter mit dir sprechen», sagte er nervös.
    Ohne sich noch einmal umzudrehen, war der alte Mann den Hügel hinab über eine Wiese gehastet, und George Willard blieb verblüfft und verängstigt auf dem Grashang sitzen. Zitternd vor Furcht erhob sich der Junge und ging auf der Straße zurück in die Stadt. «Ich werde ihn nicht nach seinen Händen fragen», dachte er, berührt von der Erinnerung an das Entsetzen, das er in den Augen des Mannes gesehen hatte. «Da stimmt etwas nicht, aber was genau, möchte ich nicht wissen. Seine Hände haben etwas mit seiner Angst vor mir und vor allen anderen zu tun.»
    Und George Willard hatte recht. Betrachten wir doch kurz die Geschichte dieser Hände. Vielleicht vermag es, wenn wir darüber reden, den Dichter zu wecken, der dann die verborgene Wundergeschichte von dem Einfluss erzählt, unter dem die Hände bloß flatternde Fähnchen der Verheißung waren.
    In seiner Jugend war Wing Biddlebaum in einer Stadt in Pennsylvania Lehrer gewesen. Damals kannte man ihn noch nicht als Wing Biddlebaum, vielmehr trug er den weniger euphonischen Namen Adolph Myers. Als Adolph Myers war er bei den Jungen an seiner Schule sehr beliebt.
    Adolph Myers war von der Natur zum Lehrer der Jugend bestimmt. Er war einer jener seltenen, kaum verstandenen Männer, die mit einer so sanften Macht
herrschen, dass sie als liebevolle Schwäche angesehen wird. In ihren Gefühlen für die ihnen anvertrauten Jungen sind solche Männer dem feineren Geschlecht der Frauen in deren Liebe zu Männern nicht unähnlich.
    Und dennoch erklärt es das nur grob. Hier ist der Dichter gefragt. Mit den Jungen seiner Schule war Adolph Myers des Abends ausgegangen oder hatte bis zur Dämmerung, verloren in einer Art Traum, auf den Stufen der Schule gesessen. Hierhin und dahin wanderten seine Hände, streichelten die Schultern der Jungen, umspielten die zerzausten Köpfe. Wenn er redete, wurde seine Stimme weich und klangvoll. Auch darin lag Zärtlichkeit. In gewisser Weise waren Stimme und Hände, das Streicheln der Schultern und das Berühren der Haare Teil der Bemühungen des Lehrers, den jungen Köpfen einen Traum einzugeben. Die Zärtlichkeit in seinen Fingern war seine Art, sich auszudrücken. Er gehörte zu jenen Männern, in denen die Kraft, die Leben schafft, diffus ist, nicht gebündelt. Unter der Zärtlichkeit seiner Hände wurde der Geist der Jungen frei von Zweifel und Unglauben, und sie begannen ebenfalls zu träumen.
    Und dann die Tragödie. Ein schwachsinniger Junge an der Schule verliebte sich in den jungen Lehrer. Nachts im Bett stellte er sich unsagbare Dinge vor, und am Morgen erzählte er dann seine Träume als Tatsachen. Seltsame, widerliche Anschuldigungen flossen ihm über die losen Lippen. Ein Schauder durchlief die pennsylvanische Stadt. Verborgene, schattenhafte Zweifel, welche die Männer, Adolph Myers betreffend,
zuvor schon gehabt hatten, verhärteten sich zu Überzeugungen.
    Die Tragödie ließ nicht auf sich warten. Zitternde Jungen wurden aus dem Bett gezerrt und befragt. «Er hat den Arm um mich gelegt», sagte einer. «Seine Finger haben immer mit meinem Haar gespielt», ein anderer.
    Eines Nachmittags kam ein Mann aus der Stadt, Henry Bradford, ein Saloonbesitzer, an die Tür des Schulhauses. Er rief Adolph Myers auf den Schulhof und schlug ihn mit den Fäusten. Während seine harten Knöchel in das angstvolle Gesicht des Lehrers

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