Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
geheiratet. Carla arbeitete wieder als Krankenschwester und nebenbei als Stadtverordnete für die Sozialdemokraten. Auch Heinrich, Friedas Mann, saß im Stadtrat.
In Ostdeutschland hatten die Russen die SPD verboten, doch Berlin war eine Oase in der sowjetischen Zone, da hier alle vier Siegermächte das Sagen hatten. Die Amerikaner, Briten und Franzosen hatten ihr Veto gegen ein SPD -Verbot eingelegt – mit dem Ergebnis, dass die Sozialdemokraten die Wahlen gewonnen hatten. Die Kommunisten hatten nur einen armseligen dritten Platz belegt, noch hinter den Christdemokraten. Die Russen waren außer sich vor Wut und taten alles, um dem gewählten Stadtrat Steine in den Weg zu legen. Carlas Erwartungen wurden immer wieder enttäuscht, doch sie wollte die Hoffnung nicht aufgeben, eines Tages von den Sowjets frei zu sein.
Werner war es gelungen, ein kleines Unternehmen aufzubauen. Er hatte die Ruinen der Fabrik seines Vaters durchsucht und einen kleinen Bestand an elektrischen Bauteilen entdeckt. Die Deutschen konnten sich zwar keine neuen Radios leisten, aber sie wollten die alten wieder benutzen. Werner hatte einige der Ingenieure und Techniker ausfindig gemacht, die früher in der Fabrik gearbeitet hatten, und nun reparierten sie gemeinsam defekte Radios. Werner war Geschäftsführer und Chefverkäufer in Personalunion. Er ging von einem Haus zum anderen, klopfte an die Türen und warb für seine Firma.
Maud, die an diesem Abend ebenfalls am Küchentisch saß, arbeitete als Dolmetscherin für die Amerikaner. Sie war eine der besten und war häufig im Gebäude der Alliierten Kommandantur beschäftigt, die dem Alliierten Kontrollrat unterstand und für die Viersektorenstadt Berlin verantwortlich war.
Carlas Bruder Erik trug Polizeiuniform. Nachdem er in die kommunistische Partei eingetreten war – zur großen Enttäuschungseiner Familie –, hatte er eine Beamtenstelle in der von den sowjetischen Besatzern neu gegründeten ostdeutschen Polizei bekommen. Erik sagte, die Westalliierten hätten die Absicht, Deutschland zu spalten. »Ihr Sozialdemokraten seid Sezessionisten«, warf er seiner Schwester vor und zitierte damit die kommunistischen Phrasen genau so, wie er einst die Parolen der Nazis nachgeplappert hatte.
Rebecca war nun fast siebzehn. Carla und Werner hatten sie offiziell adoptiert. In der Schule machte sie sich gut, und sie hatte ein Talent für Sprachen.
Carla war wieder schwanger; allerdings hatte sie Werner noch nichts davon erzählt. Sie war aufgeregt. Werner hatte schon eine Tochter und einen Sohn adoptiert; nun bekam er auch noch ein eigenes Kind. Carla wusste, dass er sich freuen würde, wenn sie ihm davon erzählte. Trotzdem wollte sie noch ein wenig warten, nur um sicherzugehen.
Sie hätte zu gern gewusst, in was für einem Land die drei Kinder aufwachsen würden.
Ein amerikanischer Offizier mit Namen Robert Lochner sprach im Radio. Er war in Deutschland aufgewachsen und sprach Deutsch wie seine Muttersprache. Ab nächsten Montag, sieben Uhr morgens, verkündete er, würde Westdeutschland eine neue Währung haben: die Deutsche Mark.
Carla war nicht überrascht. Die Reichsmark verlor jeden Tag an Wert. Die meisten Leute wurden in Reichsmark bezahlt, falls sie eine Arbeit hatten, und bestimmte Dinge des täglichen Bedarfs – Nahrung, aber auch Busfahrkarten – konnte man damit erwerben; aber jeder zog Lebensmittel oder Zigaretten als Zahlungsmittel vor. Werner ließ sich von seinen Kunden in Reichsmark bezahlen, doch er bot auch einen Übernacht-Reparatur-Service für fünf Zigaretten und die Lieferung der Geräte für drei Eier an.
Carla wusste von Maud, dass auch in der Kommandantur bereits über die neue Währung diskutiert worden war. Die Russen hatten Druckplatten verlangt, um selbst Geldscheine produzieren zu können. Aber sie hatten schon die alte Währung zugrunde gerichtet, indem sie zu viel gedruckt hatten; das sollte nicht mehr passieren. Konsequenterweise weigerten sich die Westmächte, und die Sowjets schmollten.
Mittlerweile hatte der Westen beschlossen, ohne die Sowjetsweiterzumachen. Carla war zufrieden, denn die neue Währung würde gut für Deutschland sein; aber sie hatte Sorgen, was die mögliche Reaktion der Russen betraf.
Die Menschen in Westdeutschland würden zunächst einmal ein Handgeld von vierzig Mark bekommen, eine Woche später noch einmal zwanzig. Die restlichen Reichsmarkbestände, sofern auf einem gültigen Konto, erklärte Lochner nun im Radio, würden
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