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Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)

Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)

Titel: Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeleine K. Albright
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zu zählen und zu beten. Als Jugendlicher lernte er eine Zeitlang Schlosser, danach Schmied. Viele Jahre später erinnerte er sich, welche Fertigkeiten von einem Jungen im 19. Jahrhundert verlangt wurden: wie man pfeift, läuft, schwimmt, auf den Händen geht, auf einem Pferd reitet, auf einen Baum klettert, Käfer fängt, ein Feuer anzündet, Schlitten fährt, auf Stelzen geht, Schneebälle wirft, Steine hüpfen lässt, schnitzt, Pferdehaare zu Knoten bindet, ein Klappmesser verwendet und »ganz unpazifistisch« Soldat, »eigentlich Krieg« spielt. Er fügte hinzu: »Wie die Mädchen lebten, das weiß ich aus eigener Erfahrung nicht; wir Jungen hatten mit den Mädchen nichts Gemeinsames und lebten völlig getrennt.« 11
    Wenn der junge Masaryk nicht anderweitig beschäftigt war, studierte er. Ein Priester am Ort lehrte ihn Latein und riet, den Jungen auf die Schule zu schicken. Während er sich mit einer Stellung als Hauslehrer über Wasser hielt, kletterte er auf der akademischen Leiter höher. Im Jahr 1872 machte er sein Examen an der Universität Wien, vier Jahre später erwarb er den Doktor der Philosophie und zog nach Leipzig, wo er Vorlesungen zur Theologie hörte. Nachdem er eine Herausforderung durch gewissenhaftes Studium bewältigt hatte, stellte er sich der nächsten, indem er sich aus der Bibliothek einen Stapel von Büchern über die Psyche der Frau auslieh. So vorbereitet lernte er Charlotte Garrigue kennen, eine junge Amerikanerin mit feinem, kastanienbraunem Haar, einer musikalischen Begabung und einem unabhängigen Kopf. Anfangs reagierte sie zurückhaltend auf seine Annäherungsversuche und fuhr erstmal zum Urlaub an einen Badeort. Masaryk folgte ihr in einem Eisenbahnwaggon der vierten Klasse, machte mit ihr lange Spaziergänge und eroberte am Ende ihr Herz. Das Paar heiratete im März 1878 in Charlottes Geburtsstadt Brooklyn und begründete damit nicht nur eine eheliche Verbindung, sondern auch eine internationale zwischen
dem Volk der tschechischen Länder und den Vereinigten Staaten. Zum Zeichen des Respekts, der damals und seither selten war, nahm Masaryk Charlottes Nachnamen als seinen Zweitnamen an. Sie hatten vier Kinder, das jüngste war ein Junge namens Jan.
    Tomáš G. Masaryk nahm seine Lehrtätigkeit an der Universität in Prag auf und erwarb sich schon bald einen Ruf als Freidenker. Niemand konnte jemals behaupten, dass es ihm an Überzeugungen oder dem nötigen Rückgrat, sie zu verteidigen, gefehlt hätte. Als Akademiker irritierte er die älteren Kollegen mit seinen freizügigen Vorlesungen über Themen wie Sexualkunde und Prostitution. Kaum war er Abgeordneter im Parlament, da kritisierte er die Besetzung Bosnien-Herzegowinas durch Österreich-Ungarn. In der Zwischenzeit hatte er sich bereits die Feindschaft der katholischen Kirche zugezogen, indem er Jan Hus lobte und sich selbst einem glühenden, aber antiklerikalen Protestantismus verschrieb. Als Journalist prallte er anschließend frontal auf die Lokomotive des tschechischen Nationalismus.
    Im Jahr 1817 wurden zwei angeblich alte, tschechische Handschriften in Zelená Hora entdeckt, einer Stadt im Bezirk Plzeň (Pilsen) in Westböhmen. Die Dokumente bewiesen angeblich, dass die Literatur der tschechischen Nation älter sei als die der Deutschen und dass die alten Böhmen einen höheren Stand der Bildung und Kultur erlangt hätten. jahrzehntelang beriefen sich tschechische Propagandisten auf diese Schriften als Ausgangspunkt für die Diskussion der Geschichte ihres Volkes. Maler nutzten sie unterdessen als Quelle für patriotische Werke. Im Februar 1886 legte ein von Masaryk gebilligter Artikel überzeugende Beweise vor, dass die Handschriften eine Fälschung waren. Die Theorien der Nationalisten platzten wie eine Seifenblase, was für erhebliche Misstimmung sorgte. Masaryk entsann sich, dass ein einheimischer Unternehmer ihn nur wenige Tage nach dem Erscheinen des Artikels in ein hitziges Gespräch verwickelte:
    Er [ein Brauereibesitzer] kannte mich nicht und begann, von mir zu reden, ich wäre von den Deutschen bestochen worden, um die tschechische Vergangenheit zu verunglimpfen, und
derlei Dinge. … Ein andermal half ich Bürgern in der Straßenbahn den Verräter Masaryk beschimpfen. Das bereitete mir Spaß, aber es ärgerte mich, sooft ich sah, wie unaufrichtig manche Leute die Handschriften verteidigten: sie glaubten nicht an sie, fürchteten sich aber, es einzugestehen. 12
    Als Kind hatte Masaryks Mutter ihm erzählt,

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