Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)
ganzen Streitigkeiten standen dem Wohlstand jedoch nicht im Geringsten im Wege. Um 1900 hatten 80 Prozent der gesamten industriellen Produktion Österreich-Ungarns ihren Sitz in Böhmen, Mähren und Schlesien. Die Alphabetisierungsquote lag bei 96 Prozent, doppelt so hoch wie in Ungarn und sogar höher als die deutsche. Die Wirtschaft wuchs schneller als die englische oder französische. Die Tschechen waren bei der Eisenbahn führend, im Bergbau, in der Eisen- und Stahlproduktion, der chemischen Industrie, Papier-, Textil-, Glas- und Rüstungsindustrie und im Maschinenbau. Getreu ihrem Wahlspruch »In Arbeit und Wissen liegt unser Heil«, entwickelten die Tschechen neuartige Methoden für die Verarbeitung von Schinken und das Brauen von Bier, stellten aus rote Bete einen beliebten Schnaps her, erfanden eine geschickte Methode, Zucker zu verkaufen (in Würfeln), führten die Fließbandproduktion von Schuhen ein und bauten als eine der ersten Länder elektrische Züge und Straßenbahnen. Zu den Dozenten, die an die Karls-Universität kamen, zählten der österreichische Pionier der Schallwellenforschung Christian Doppler, der Schockwellenexperte Ernst Mach und ein junger deutscher Professor, der an einer Theorie der Physik arbeitete: Albert Einstein. Das Verdienst, am Arbeitsplatz Helmpflicht einzuführen, gebührt einem zweisprachigen Versicherungsangestellten aus Prag, einem Hobbyschriftsteller – sein Name war Franz Kafka.
Der verbesserte gesetzliche Status der Juden vertrug sich nicht immer mit dem Aufwallen der nationalen Gefühle. Menschen jüdischer Abstammung hatten großen Erfolg in der Wirtschaft, in freien Berufen und in den Künsten, aber ihre Stellung in der Gesellschaft ließ sich nicht so ohne weiteres auf einen Nenner bringen. Slowakische Juden waren ländlicher und tendenziell konservativ eingestellt. Das entgegengesetzte Ende des Spektrums war bei der stetig wachsenden Gruppe von Intellektuellen in und um Prag zu finden. Bei
manchen Juden entwickelte sich aus dem aufkommenden Nationalbewusstsein der Zionismus, oder sie widmeten sich einer tieferen Erforschung der ethischen und scholastischen Traditionen. Für andere hingegen bedeutete es eine wachsende Assoziierung mit der Emanzipationsbewegung der Tschechen, doch dieses Bestreben, der böhmischen Nationalbewegung anzugehören, wurde nicht von allen begrüßt.
Siegfried Kapper, ein tschechischer Jude, komponierte patriotische Verse, unterstrich aber zugleich sein doppeltes Vermächtnis. Unter seinen Werken war ein Gedicht aus dem Jahr 1846 mit dem Titel »Sag’ nicht, ich sei kein Tscheche«. Karel Havliček, der Journalist, antwortete mit eben dieser These: Es sei unmöglich, beharrte er, zugleich Semit und Tscheche zu sein. Diese von vielen akzeptierte Theorie stand den Juden im Weg, die versuchten, sich mit den patriotischen Gefühlen jenes Ortes zu verbinden, an denen ihre Familien seit Jahrhunderten gelebt hatten. Definierte das Blut (insofern die Abstammung bestimmt werden konnte) die Nationalität oder eine Kombination aus geographischer Herkunft, Sprache, Sitten und persönlichen Vorlieben? Ein endloser Streit. Bedauerlicherweise herrschte selbst dort, wo ein gehässiger Antisemitismus selten war, die eher gleichgültige Haltung vor. Der brillante Schriftsteller Jan Neruda, der häufig mit Anton Tschechow verglichen wurde, war ein typischer Fall. Seine fiktiven jüdischen Charaktere waren fast ausnahmslos habgierige Geldverleiher, deren »Rasse« als grausam und herrschsüchtig beschimpft wurde. Neruda gab sich keine Mühe, dafür irgendwelche Beweise vorzulegen, er ging einfach davon aus, dass die Leser ihm zustimmen würden. In dieser Atmosphäre wussten viele Juden nicht, wohin sie sich wenden sollten. Dr. Theodor Herzl, der Vater des Zionismus, brachte das Dilemma auf den Punkt:
Arme Juden, woran sollten sie sich denn halten? Es gab welche, die sich tschechisch zu sein bemühten; da bekamen sie es von den Deutschen. Es gab welche, die deutsch sein wollten, da fielen die Tschechen über sie her – und Deutsche auch. Es ist um den Verstand zu verlieren … 10
Merkwürdigerweise war ausgerechnet die Person, die am meisten für die tschechische Unabhängigkeit tat – und vieles für den Kampf gegen den Antisemitismus –, der Sohn eines katholischen, slowakischen Kutschers. Tomáš Masaryk wurde am 7. März 1850 geboren. Er wuchs mit den lokalen Dialekten auf, wurde aber von seiner Mutter, einer Mährin, angewiesen, auf Deutsch
Weitere Kostenlose Bücher