Winterfest
Etikett. Die Flasche hatte er nach einem Vortrag vor dem Handelsverband bekommen, wie er sich zu erinnern meinte. Sie sah teuer aus und es hatte sicher nicht geschadet, sie so lange liegen zu lassen. Er liebte Wein, hatte aber nie Zeit oder Interesse genug gehabt, sich mit Rebsorten, Produzenten und Anbaugebieten zu beschäftigen oder damit, welcher Wein zu welchem Essen passte und welchen man solo trinken konnte. Ihm genügte es, einen guten Wein zu erkennen, wenn er ihn trank.
»Baron de Oña?«, las er laut vom Etikett ab und blickte zum Sofa hinüber.
Suzanne lächelte und nickte ihm zu. Er lächelte zurück. Sie war vor zwei Jahren in sein Leben getreten und hatte einen großen Platz darin eingenommen. Vor einer Woche war sie nach einem Wasserrohrbruch in ihrer Wohnung bei ihm eingezogen. Er hatte es ihr gegenüber nicht erwähnt, aber es gefiel ihm, sie bei sich im Haus zu haben.
Er nahm zwei Gläser und warf wieder einen Blick nach draußen, ohne etwas anderes zu sehen als sein Spiegelbild. Ein breites, grob geschnittenes Gesicht mit dunklen Augen. Dann drehte er sich um, ging zurück zum Sofa und setzte sich neben Suzanne.
Im Fernsehen hatte Thomas R ø nningen seine Talkrunde mit interessanten Gästen gefüllt, die unterschiedliche Meinungen zu einem bestimmten Thema vertraten. Wisting mochte diese Art von Sendungen, die ein ernstes Thema mit leichter Unterhaltung mischten. Er mochte auch den Moderator. Thomas R ø nningen besaß einen jungenhaften Charme und schaffte es, eine intime, persönliche und behagliche Atmosphäre vor der Kamera entstehen zu lassen. Er hatte sich als Talkmaster einen Namen gemacht. Stellte immer wohlformulierte und intelligente Fragen, und anstatt seine Gäste mit kritischem Nachfragen in die Enge zu treiben, entlockte er ihnen Enthüllungen, indem er sie einfach frei erzählen ließ.
Suzanne nahm ihm die Gläser ab und stellte sie auf den Tisch. Er stand abrupt wieder auf und holte einen Korkenzieher. Bevor er sich setzte, warf er wieder einen Blick aus dem Fenster. Noch ein Einsatzfahrzeug, unterwegs in dieselbe Richtung wie das erste. Automatisch sah er auf die Armbanduhr und merkte sich die Zeit: 22.02 Uhr.
»Also dann, gratuliere«, sagte Suzanne und hielt das Glas, während er einschenkte.
»Was meinst du?«
»Zur Hütte«, sagte sie und deutete mit einem Kopfnicken in Richtung des Schlüssels auf dem Tisch.
Wisting setzte sich wieder aufs Sofa.
Der Tag hatte in einer Anwaltskanzlei in Oslo begonnen, zusammen mit seinem Onkel, Georg Wisting.
Onkel Georg war achtundsiebzig und hatte die meiste Zeit seines erwachsenen Lebens damit verbracht, eine Ingenieurfirma aufzubauen, die auf Energieeinsparung spezialisiert war. William Wisting hatte nie ganz verstanden, was das beinhaltete, wusste aber, dass sein Onkel ein technisches Verfahren zur Reinigung und Desinfizierung von Wasser und Luft entwickelt und patentiert hatte.
Onkel Georg hatte es sich auch zur Lebensaufgabe ge macht, gegen Konventionen zu verstoßen, und hegte eine tief greifende Abneigung gegen Steuern und Abgaben. Das hatte zu einigen Boxrunden mit der Gerichtsbarkeit geführt, die mit Strafsteuern und Gefängnis auf Bewährung geendet hatten.
Der Termin in der Anwaltskanzlei betraf Georg Wistings letzten Willen. Es ging darum, dass der Staat auf gar keinen Fall von seinem Tod profitieren sollte. Der Anwalt war auf Erbrecht spezialisiert und hatte einen ziemlich komplizierten Plan ausgearbeitet, wie Onkel Georg sein Vermögen disponieren sollte, bevor er starb.
Für William Wisting lief es darauf hinaus, dass er Eigentümer einer Hütte am Værvågen außerhalb von Helgeroa wurde, mit einem künstlich so niedrig angesetzten Wert, wie es das Gesetz gerade noch zuließ, sodass die Erbschaftssteuer auf ein Minimum zusammenschrumpfte.
Das machte ihn zu einem wohlhabenden Mann. Nicht, dass es ihm darum gegangen wäre. Geld war kein Problem. Er verdiente relativ gut, gleichzeitig ließ ihm sein Beruf im Grunde gar keine Zeit, viel auszugeben. Und dann war da auch noch das andere Geld. Ingrids Nachlass sozusagen. Die Kinder und er hatten eine Entschädigung in Millionenhöhe erhalten, als sie vor vier Jahren bei einem Auftrag für Norad in Afrika starb. Das Geld lag auf einem Konto und wurde mit jedem Monat mehr. Er hatte es nicht über sich gebracht, es anzurühren.
Er erinnerte sich an die Zeit, als sie frisch verheiratet gewe sen waren und Ingrid die Zwillinge erwartete. Die Rechnungen hatten sich
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