Winterfest
gestapelt. Manchmal hatten sie Pfandflaschen sammeln und zu Geld machen müssen, wenn das Gehaltskonto am Monatsende leer war. Inzwischen hatte er aufgehört, beim Einkaufen auf den Preis zu achten.
Der Anwalt hatte sich erboten, seine Vermögenslage durchzugehen und einen Plan zu erarbeiten, der die Steuerbelastung auf ein Minimum reduzieren würde. Wisting hatte dankend abgelehnt.
Die Leute im Fernsehen lachten über irgendetwas.
»Ich beneide solche Menschen«, sagte Suzanne mit einem Kopfnicken zum Bildschirm.
Wisting nickte, obwohl er nicht mitbekommen hatte, welche Art von Menschen sie meinte. Ihm gefiel es einfach, zusammen mit ihr auf dem Sofa zu sitzen.
»Leute, die eben tun, wozu sie Lust haben«, fuhr sie fort. »Die etwas wagen. Die mit allem Sicheren und Vertrauten brechen und stattdessen etwas Neues und Spannendes machen. Solche wie Sigrid Heddal.«
Wisting warf einen Blick auf den Bildschirm. Eine Frau um die fünfzig sprach voller Begeisterung über etwas, das sie ›Safe Horizon‹ nannte.
Suzanne blickte ihn an. »Stell dir vor, sie ist über fünfzig, wirft ihren sicheren Job als Projektleiterin in der Wirtschaft hin und geht nach Addis Abeba, um freiwillig etwas für Waisenkinder zu tun. Das nenne ich Mut.«
Wisting nickte. Er mochte diese Seite an Suzanne.
»Tommy ist auch so ein Mensch.«
Sie sprach von Lines dänischem Freund. Vor einem Jahr hatte Tommy Kvanter seinen Job als Zahlmeister auf einem Fabriktrawler gekündigt, seine Wohnung verkauft und war bei Wistings Tochter eingezogen. Das Geld aus dem Wohnungsverkauf hatte er mit einigen Freunden in ein Restaurantprojekt in Oslo investiert. Wisting hielt Tommy für einen Träumer. Nicht unbedingt eine Eigenschaft, die er schätzte.
Nach dem Termin in der Anwaltskanzlei hatten Suzanne und er zusammen mit Line in Tommys Restaurant gegessen. Für Wisting war es das erste Mal, dass er dort einkehrte, und er begriff, dass es mehr war als ein Speiselokal. Es war ein ganzes Restauranthaus über drei Etagen, das den Namen Shazam Station trug, mit einem Nachtklub im Keller, einer Kaffeebar im Erdgeschoss und dem Restaurant in der obersten Etage.
Tommy war für die Küche und das Restaurant verantwortlich. Er hatte sich nicht die Zeit genommen, mit ihnen gemeinsam zu essen, aber er hatte dafür gesorgt, dass sie ein Vier-Gänge-Menü bekamen. Das Essen war gut, daran lag es nicht. Aber wo waren all die Gäste an diesem betriebsamen Freitagnachmittag? Nur wenige Tische waren besetzt und die Kellner sahen aus, als hätten sie viel zu wenig zu tun. Wenn das jeden Tag so war, sah es schlecht aus für das ganze Geld, das Tommy in das Projekt gesteckt hatte.
Er hatte nie recht verstanden, was seine Tochter an Tommy fand. Zugegeben, Tommy wirkte manchmal durchaus reflektiert und gebildet, und sogar Wisting konnte sehen, wie charmant er war. Aber er traute ihm einfach nicht. Es hatte nichts damit zu tun, dass der Typ wegen einer Drogengeschichte vorbestraft war oder dass er stur und egoistisch sein konnte. Wisting hielt ihn nur einfach nicht für den Mann, auf den Line ihre Zukunft bauen sollte.
Manchmal fragte er sich, ob er nur deswegen so skeptisch war, weil Line seine Tochter war, aber eigentlich glaubte er das nicht. Und als er die beiden das letzte Mal zusammen gesehen hatte, schien es so, als hätte Line auch begonnen, die schwächeren Seiten an Tommy zu sehen. Sie ärgerte sich ständig über Sachen, die er sagte oder tat, und Wisting musste zugeben, dass es ihn freute, dass sie nicht mehr ganz so unkritisch war.
»Wenn man sich nicht traut, etwas Neues zu versuchen, kann man auch nicht erwarten, dass man etwas erreicht«, fuhr Suzanne fort. »Und was hat man denn schon zu verlieren? Ganz egal, wie oft man scheitert, man lernt jedes Mal etwas dazu. Und alle Erfahrungen sind wertvoll. Gute wie schlechte.«
Einer der Gäste im Fernsehen fand nicht sofort eine Antwort auf die Frage, die ihm gestellt worden war. In der Stille, die einsetzte, konnte Wisting weit entfernt eine Polizeisirene hören.
Er griff nach dem Weinglas und hielt es eine Weile in der Hand.
»Könntest du dir vorstellen, ein Restaurant zu eröffnen?«, fragte er.
»Ja«, antwortete sie überrascht und lächelte ihn an. »Nicht unbedingt ein Restaurant, aber vielleicht ein kleines Kunstcafé. Das Leben ist zu kurz, um es so zu leben, wie ich es tue. Jeden Morgen im Büro sein. Besprechungen, Budgets, Einsparungen, Projekte.«
Suzanne war Sozialpädagogin beim Jugendamt
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