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Winterkind

Winterkind

Titel: Winterkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Mer
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Füße sind wie aus Eis!“
    „Eine Dame klagt nicht! Selbst, wenn ihr die Füße abfrören und im Schnee steckenblieben und sie auf den Stümpfen weitergehen müsste. Hören Sie mir zu? Auf – den – Stümpfen. Was wird Ihre Mutter denken, wenn sie Sie so ankommen sieht, zerrupft und zerzaust und jammernd wie ein Bettelweib? An einem solchen Tag noch dazu?“
    Johanna verstummte und ließ den Kopf hängen.
    „Der krönende Abschluss eines großartigen Tages“, brummte Anton, der neben ihnen stapfte.
    „Ach, hören Sie doch auf“, fuhr Sophie ihn an, „davon wird es auch nicht besser. Wie haben Sie das übrigens gemeint, vorhin? Dass es nichts genützt hätte, Johanna mitzunehmen? Was hat das mit Nützen zu tun? Es ist doch wohl nur natürlich, dass ein Mädchen zur Beerdigung seiner Großmutter geht. Auch, wenn es hinterher meint, sie wäre eine alte Hexe gewesen. Was das Fräulein sich da wohl wieder zusammengesponnen hat in dem kleinen Köpfchen …“
    „Ja, gewiss doch“, sagte Anton spöttisch, „ganz natürlich ist es. Besonders, wenn dieses Mädchen diese Großmutter lebendig kein einziges Mal zu Gesicht bekommen hat.“
    „Sie wissen genau, wie es mit Frau von Rapp steht in diesen Dingen.“ Sophie warf einen schnellen Seitenblick auf Johanna. Sie schien jeden Protest aufgegeben zu haben und war vollkommen damit beschäftigt, sich auf den kurzen Beinen neben ihr durch den Tiefschnee zu kämpfen. Trotzdem senkte Sophie ihre Stimme. „Sollte das Mädchen vielleicht allein fahren? Wie stellen Sie sich das vor?“
    „Nun …“, Anton strich sich sinnlos ein paar Schneeflocken vom Mantelaufschlag. Die Bewegung machte Sophie nur noch gereizter. „Nun, jetzt ging es ja auch, nicht wahr? Ein Mädchen kann durchaus mit dem Vater auf Familienbesuch gehen, meinen Sie nicht? Nur sind Väter meistens ja viel beschäftigte Leute. Da muss es schon einen guten Grund geben. Vor allem, wenn man sich eben gar nicht so fürchterlich nahesteht. Einen guten, richtig guten Grund. Zum Beispiel – ein Erbe.“
    Sophie blieb stehen. Johanna zockelte noch ein, zwei Schritte weiter und hielt dann ebenfalls an.
    „Ein Erbe?“, fragte Sophie, sehr leise jetzt. „Wie meinen Sie das, bitte? Was hat irgendein Erbe damit zu tun?“
    „Leider nichts“, sagte Anton spöttisch.
    Sophie war schockiert. „Wer denkt denn bei einer Beerdigung an Geld!“
    „Sie offensichtlich nicht, Sie guterzogene Frauensperson. Ich hätte Sie für weniger naiv gehalten.“
    Er machte Anstalten, einfach weiterzustapfen, aber irgendetwas in Sophies Gesicht brachte ihn dazu, anzuhalten und sich ihr zuzuwenden. Er senkte die Stimme wie sie; mit einem Mal lag großer Ernst darin.
    „Sie sind doch normalerweise eine vernünftige Person, Sophie. Ich nehme an, das müssen Sie auch sein in Ihrem Beruf. Sie haben Augen im Kopf und wissen sie zu gebrauchen. Und einen Verstand. Ein Kaufmann denkt immer ans Geld – immer. Das muss er. Erst recht in diesen schwierigen Zeiten. Meinen Sie wirklich, ein guter Kaufmann und Familienvater wie Herr von Rapp fährt Dutzende von Meilen weit, auf ein zugiges, ungemütliches Schloss, zur Beerdigung einer Schwiegermutter, die er seit Jahren nicht gesehen hat, wenn er sich nicht irgendetwas davon erhofft? Wenn er währenddessen an hundert anderen Stellen sein müsste, um Aktionäre zu beruhigen, Gläubiger zu vertrösten, die Arbeiter zu beschwichtigen, die auf ihren Lohn warten? Und meinen Sie nicht auch, wenn Sie sich an das Schloss erinnern“, er betonte das Wort ironisch, „dass dort nicht viel an – Erhofftem zu holen gewesen sein wird?“
    Sie tauchten wieder vor ihr auf, die feuchten, klammen Mauern. Die abgeblätterten Seidentapeten, die ausgetretenen Teppiche. Das klägliche Häufchen Bediensteter, das sich wispernd in einer Ecke der fast leeren Halle zusammendrängte.
    „Wir haben dieses – Ding mitgenommen“, sagte sie zögernd. Anton lachte leise.
    „Dieses Ding, das haben Sie schön gesagt. Was meinen Sie übrigens, das es ist? Ein uraltes Ahnenportrait von Graf Wilhelm dem Riesen?“
    Sophie schüttelte den Kopf. „Jetzt spotten Sie wieder.“
    Er schob die Hände unter die Achseln. „Da haben Sie wohl recht.“
    Sie schwiegen beide, sahen der nur noch handgroßen Gestalt im schwarzen Gehpelz hinterher, die immer noch mit energischen Schritten von ihnen fortstrebte, auf das Haus zu, den sicheren Hafen, und die keine Anstalten machte zu warten.
    Neben Sophie hob Johanna mühsam den

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