Winterkind
Kopf.
„Gehen wir denn nicht weiter?“, fragte sie kläglich.
Sophie riss sich aus ihren Gedanken.
„Natürlich tun wir das. Sehen Sie, das Haus ist ja schon ganz nah.“
Sie deutete auf das wuchtige Gebäude aus grauem Stein, ein paar Meter über dem Park und vielleicht noch zweihundert Schritt entfernt. Die Glashütte darüber, verschwommen im Dunst, stieß Rauchwolken aus.
Sophie warf Anton einen warnenden Blick zu und setzte sich wieder in Bewegung. Er zuckte nur die Achseln, schob sich vor Sophie und das Mädchen, damit sie in seinen Fußspuren laufen konnten. Sophie bemerkte es dankbar. Aber sie sagte nichts.
„Warum kann ich denn das Haus sehen, aber die Straße nicht“, jammerte Johanna. „Haben wir uns verlaufen?“
„Unsinn!“ Sophie hätte das Mädchen am liebsten geschüttelt, bis ihm die Zähne im Mund klapperten. „Die Bäume sind dazwischen, das wissen Sie doch! Da vorn, Ihr Herr Vater hat sie doch schon fast erreicht.“
„Sie sehen so komisch aus, die Bäume.“ Johanna hörte nicht auf. „Als ob sie lauter schwarze Blätter hätten.“
„Ulmen werfen das Laub ab im Winter, stellen Sie sich nicht dumm.“
„Und doch sehen sie so aus!“
Vor ihnen lachte Anton sein ironisches Lachen.
„Kommen Sie“, sagte Sophie, „hören Sie endlich auf, so ein kleiner Teufel zu …“
Sie verstummte. Ihr Blick war unwillkürlich nach oben gewandert, über den zerzausten Mädchenschopf, von dem die Mütze längst ganz heruntergerutscht war. Es lagen schwarze Schatten in den Bäumen. Sie bewegten sich sacht. Und ein Geräusch wurde langsam deutlicher; ein Geräusch, das sie vielleicht schon die ganze Zeit über gehört hatte, ohne es wahrzunehmen.
Auch Anton schien es jetzt zu hören. Er blieb wieder stehen, drehte sich nach ihnen um.
„Es ist nur – nur ein Vogelschwarm“, sagte Sophie zögernd. Und dann noch einmal, fester: „Ein Vogelschwarm. Nichts weiter. Die Tiere suchen vielleicht in den Zweigen nach Nahrung. Oder sie haben sich dort Nester gebaut. Irgendwo müssen sie ja hin, wenn sie nicht fortfliegen können.“
„Ich mag sie nicht“, sagte Johanna störrisch.
Die hoch aufgerichtete Gestalt weit vor ihnen auf dem Weg ging unbeirrt auf die Bäume zu. Jetzt schien sie etwas hochzuheben –
„Der Spazierstock!“ Sophie hörte selbst die plötzliche, kindische Erleichterung in ihrer Stimme. „Sehen Sie, er holt den Spazierstock vor! Seien Sie nicht bange vor den dummen Vögeln. Ihr Herr Vater wird ...“
Woher waren sie plötzlich aufgetaucht, die winzigen Gestalten im Schnee? Wie Tupfen auf der Leinwand des Parks, dachte Blanka. Rechts von den Bäumen, in einer Senke. Zwei größere, eine kleine und eine ganz kleine. Die größte kam schnell näher. Sie reckte etwas Langes, Schmales gegen die Bäume, die Bäume, in denen es jetzt zu rauschen anfing. Die Bäume, die die Sicht auf die Straße verstellten. Und dort, auf der Straße, die Kutsche mit den Pferden. Sie schlugen mit den Köpfen, auf und ab. Fingen langsam an, rückwärts zu gehen.
„Nein!“ Blankas Schrei prallte gegen die Scheibe, als sie verstand, was passieren würde. „Nein, nicht werfen! Die Pferde – der Wagen!“
So unwirklich deutlich, die Szene, alle Konturen plötzlich überscharf.
„Nein, nicht!“
Niemand hörte sie, niemand konnte sie hören. Ein, zwei flatternde Schemen huschten aus den Bäumen, über das Dach der Kutsche hinweg, ganz dicht über dem riesigen flachen Kasten. Die Pferde drängten wieder nach vorn, ein heftiger Ruck ging durch das Gefährt. Hinten polterte eine der Reisekisten auf die Straße. Und der lange, schmale Gegenstand zielte immer noch mitten in die Ulmen.
Blanka klopfte gegen die Scheibe.
„Nicht, nicht!“
Die Zeit tat einen holpernden Sprung; dann war es schon geschehen, war der Stock hoch und schräg durch die Luft geflogen, und die schwarze Wolke stieg auf aus den Bäumen in einem Brausen und Krächzen, das Blanka in den Ohren dröhnte. Dutzende, Hunderte Vogelleiber flogen in den Himmel auf, wild flatternde Scherenschnitte vor dem trüben, unbeweglichen Weiß. Die Pferde wieherten schrill, stiegen gegen die Deichsel, rissen die Kutsche hin und her, der Kutscher flog an den Zügeln herum wie ein hilfloses Püppchen. Es krachte dumpf, als eine zweite Kiste herunterstürzte, und dann knallte etwas, grell wie ein Pistolenschuss. Fassungslos sah Blanka, wie der riesige Kasten auf dem Kutschdach ins Rutschen geriet.
„Nein, nein!“
Blankas Gedanken
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