Winterkind
rasten. Zur Haustür, die Straße hinunter! Nur ein paar Schritte! Nur ein paar Schritte - - - Sie zerrte am Fensterriegel, zerbrach sich die Fingernägel am eiskalten Metall. Es rührte sich nicht, festgefroren seit Winterbeginn.
„Haltet ihn fest, haltet ihn doch fest! Lieschen! Lieschen!“
Sie hörte sich selbst nicht unter den Krähen. Immer mehr stiegen aus den Ulmen auf, die Fensterscheibe vibrierte von ihrem Schreien. Die zwei kleineren Gestalten im Park hatten sich zusammengeduckt, eine über die andere gebeugt.
„Johanna!“, schrie Blanka, „Fräulein Sophie! Johanna!“
Sie sah die beiden größeren Umrisse nicht mehr. Rannten sie unter dem Flügelsturm zur Kutsche? Die Pferde beruhigten sich nicht. Jetzt versuchte eines, zur Seite auszubrechen, das andere stürzte halb auf die Deichsel. Die Kutsche wurde herumgerissen. Wieder knallte etwas, und Blanka verstand endlich, dass es reißende Gurte waren. Die Gurte, die den Kasten hielten auf dem Dach. Blanka stöhnte auf. Wieder schlug sie, trommelte sie gegen die Scheibe.
„Er darf nicht fallen, er darf nicht fallen!“
Aber er fiel. Als das zweite Pferd sich im Krähenbrausen aufrichtete und einen gewaltigen Satz zur Seite machte – als die Deichsel brach, der Wagen zur anderen Seite gerissen wurde, sich neigte und erzitterte und eines der Räder unter sich zertrümmerte – da rutschte der große Kasten unaufhaltsam über die Kante des Daches hinaus, weiter und immer weiter, bis er kippte und stürzte und mit einem fürchterlichen Krachen senkrecht im Schnee aufschlug.
„Nein, nein!“
Aufrecht schwankte der Kasten, vor und zurück. Sein Rücken schlug gegen die Kutsche, Bretter platzten ab, und etwas schimmerte darunter auf, an der einen, oberen Ecke, etwas wie ein mattes, grausilbriges, flirrendes Licht. Die Krähen kreischten und stoben auseinander.
„Lasst ihn nicht zerbrechen, oh Gott! Lasst ihn nicht zerbrechen!“
Ein großer Vogel schoss aus dem Schwarm heraus. Irrlichterte im Zickzack über die Straße, die Pferde, die Kutsche. Ließ sich plötzlich fallen, senkrecht nach unten. Wie ein schwarzer Keil, die Flügel eng an den Leib gepresst. Auf das matte Schimmern zu, das flirrende Licht. Ein dumpfer Schlag. Wellen von Übelkeit stiegen in Blanka auf. Sie krallte sich ans Fensterbrett und kniff die Augen zu, so fest sie konnte.
Wie lange es dauerte, bis sie sie wieder öffnete, wusste sie nicht. Sie hörte Geräusche, Rufen; das Klappen der Haustür, ein ums andere Mal. Irgendwann drang die Stimme des Hausmädchens zu ihr durch, kurzatmig, zitternd.
„Es ist – alles in Ordnung, gnä’ Frau, niemandem ist was – passiert. Nur die Pferde, ich weiß nicht recht, und die Kutsche ist hin – der Kutscher kümmert sich – alle kommen rauf …“
„Der Spiegel“, flüsterte Blanka in der Dunkelheit hinter ihren Augen. „Sag mir, was mit dem Spiegel ist.“
„Das Riesending?“ Verwundert, zögernd, die Stimme des Mädchens. „Heil geblieben, trotz dem Vogel. Der hat’s allerdings nicht überlebt.“
Ihre Knie wurden weich. Sie schaffte es, die Augen zu öffnen, blinzelte, bis ihr Blick sich wieder klärte. Sie konnte die Pferde erkennen, die der Kutscher zum Haus hochführte, die Kutsche selbst, ein verformter Haufen im Straßengraben, und den Kasten, oh Gott! – den Kasten, von zwei Männern getragen. Arbeiter mussten es sein aus der Hütte nebenan, sie konnte ihre Schirmmützen sehen. Johann ging vor ihnen her, Johanna und Fräulein Sophie umschwirrten ihn. Herr Anton kam dahinter, mit zwei großen Koffern. Jemand schien eine Decke über den Kasten geworfen zu haben; das flirrende Licht war verloschen. Von den Krähen war nichts mehr zu sehen. Nur ganz schwach, aus großer Ferne, hörte sie noch ein letztes Krächzen.
Auf der Straße, dem aufgerissenen Schnee, lag ein kleiner, schwarzer, regloser Klumpen. Blanka sah es nicht, aber sie wusste: Unter ihm breitete sich langsam etwas Dunkles aus, zerfloss in das Weiß, so weich, so sanft wie Blütenblätter, die sich öffneten. Zitternd atmete sie aus, tastete nach dem Pompadour. Der harten, beruhigenden Form, die durch den Stoff der Handschuhe gegen ihre Finger drückte.
Hörte sie es wieder, das dunkle, spöttische Lachen?
Lieschen räusperte sich.
„Ich geh jetzt besser mit anfassen, gnä’ Frau.“
Sie verließ das Zimmer, ohne Blankas Antwort abzuwarten.
Es war einmal, mitten im Winter, und die Schneeflocken fielen wie Federn …
Es war einmal, mitten im
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