Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)
identifizieren könnte, zornig auf meinen Vater zu sein. Zornig auf eingebildete (und wirkliche) Kränkungen als Heranwachsender, zornig auf seinen Mangel an Fantasie und seine Weigerung, mich zu finanzieren, als ich meiner eigenen frönte. Ich glaube, er fand mich verwöhnt und undankbar. »Du hattest so viele Vorteile, Owen«, schimpfte er mich als Kind. »So viele Vorteile.«
Erst gegen Ende meiner Zeit in Moskau, als ich einen großen Teil meiner Aggression gegen die Welt im Allgemeinen abgearbeitet hatte, ließ ich mich dazu herab, zu versuchen, meinen Vater zu verstehen, dessen Leben mein eigenes unwissentlich so nah gefolgt war. Ich hatte mich lange geweigert zu glauben, dass die Leben meiner Eltern etwas mit meinem eigenen zu tun hatten, doch nun akzeptierte ich endlich, dass die Zeit gekommen war, die Augenblicke aufzuzeichnen, in denen Russland in mich eingegriffen hatte wie zuvor in meinen Vater. Wir hatten beide etwas von uns selbst hier gefunden, und diese Erkenntnis ließ in mir ein Gefühl der Kameradschaft zu dem alten Mann entstehen. Das Gefühl war tonlos, doch es knackte.
Mein Vater hat einen großen Teil seines Alters damit verbracht, sich in sich selbst zurückzuziehen, und arbeitet hart daran, sich hinter einer Mauer aus Einsamkeit zu verstecken. Es ist seltsam: Solange meine Eltern durch die Politik, durch einen anscheinend unüberbrückbaren ideologischen Graben voneinander ferngehalten wurden, zog sie eine Willenskraft, ein Magnetismus zueinander und gab ihnen Hoffnung und Mut in den sechs Jahren ihrer Trennung. Doch nun, ein halbes Leben später, ist die treibende Dynamik in meiner Familie eine Zentrifugalkraft, die uns physisch auseinandertreibt. Mein Vater verbringt heute viel Zeit in Fernost, weit weg von allen, die ihn kennen. Er reist in Nepal und China und Thailand, schlendert an Stränden entlang, wohnt ihn gemieteten Zimmern, liest und schreibt Gedichte. Zu Hause in London haben meine Eltern eine Art Waffenstillstand geschlossen – begründet vielleicht auf der Erkenntnis, dass das Leben plötzlich vorbeigezogen war und aus der langen Reihe häuslicher Scharmützel, die sie gegeneinander ausgetragen hatten, kein Sieger hervorgehen konnte.
Mein Vater und ich kamen zu einer Art Versöhnung und Annäherung, nachdem ich Xenia geheiratet hatte. Wir zogen nach Istanbul, wo meine Söhne Nikita und Theodore zur Welt kamen, doch wir verbrachten jeden Winter in der Familiendatscha von Xenias Familie. Mein Vater kam dann und wohnte in der riesigen Wohnung meiner Schwiegereltern in einer Seitenstraße des Arbat, ganz in der Nähe der Starokonjuschenny-Pereulok. Er verbrachte seine Zeit damit, in Buchläden zu stöbern, voller Verwunderung, dass im Dom Knigi ******** auf dem Neuen Arbat so viel Literatur zu finden war und dass er mit seiner englischen Kreditkarte zahlen konnte. Auf den Straßen waren Werbetafeln für die russische Ausgabe der GQ (auf der letzten Ausgabe prangte sogar ein schmeichelhaftes Porträt seines kriegsberichterstattenden Sohnes) und ein Verkaufsstand für Handys.
In der Datscha der Wassins, 1978. Babka Simka (oben links), Ljudmila, Lenina, Sascha, der Autor und seine Cousine Mascha.
In den letzten Tagen des Jahres 2002 fuhren wir zur Datscha hinaus. Es herrschte klirrender Frost, und die hohen Kiefern von Nikolina Gora standen in deutlichem Kontrast zum hellblauen Winterhimmel. In der Ferne zeichnete sich eine Reihe Bäume dunkel gegen die Schneefelder ab. Die Luft war so kalt, dass sie in den Lungen brannte.
Mein Vater und ich gingen auf der zugefrorenen Moskwa spazieren. Ich lieh ihm den schweren Mantel, den er sich in den Fünfzigerjahren in Oxford gekauft hatte. Ich selbst trug einen zotteligen Schaffellmantel der sowjetischen Armee. Mein Vater wurde sichtlich alt. Seine Hüfte bereitete ihm Probleme, und er humpelte und stolperte in den Schneeverwehungen auf der Uferböschung des Flusses. Es war so kalt, dass der tiefe Schnee auf dem Eis des Flusses wie Dielen unter unseren Stiefeln knarzte.
»Nicht gerade umwerfend, wirklich«, sagte mein Vater über sein Leben. »Nicht gerade umwerfend. Als mir klar wurde, dass ich nicht wieder zurück nach Oxford kommen würde, gab ich auf. Wenn ich mir so ansehe, was ich erreicht habe, ist das ziemlich bescheiden. Ziemlich bescheiden.«
Es folgte ein langes Schweigen. Der Wind stöhnte leise und wirbelte den Schnee auf.
»Aber du hast gewonnen. Du hast Mutter aus Russland geholt. Das war doch eine große Leistung,
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