Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)
Prolog
Die Hand die unterschrieb hat eine Stadt ruiniert …
Hat die Toten des Erdballs verdoppelt, ein Land halbiert.
Dylan Thomas
Auf einem Regal in einem Keller der einstigen KGB-Zentrale in Tschernigow, im Herzen der Ukraine, liegt eine dicke Akte mit einem zerfledderten Deckel aus brauner Pappe. Sie umfasst etwa eineinhalb Kilo Papier, alle Seiten sorgfältig nummeriert und gebunden. Es geht darin um den Vater meiner Mutter, Boris Lwowitsch Bibikow, dessen Name in eigentümlich kunstvoll gestochener Schrift auf dem Deckel eingetragen ist. Direkt unter dem Namen steht mit Schreibmaschine geschrieben: »Streng geheim. Volkskommissariat für innere Angelegenheiten. Sowjetfeindliche rechte trotzkistische Organisation in der Ukraine.«
Die Akte dokumentiert, wie mein Großvater im Spätsommer 1937 in den Händen von Stalins Geheimpolizei zu Tode kam. Ich fand sie 58 Jahre nach seinem Tod in einem schäbigen Büro in Kiew. Die Akte lag schwer auf meinem Schoß, auf unheimliche Weise bösartig, ein geschwollener Tumor aus Papier. Sie roch nach säuerlichem Moschus.
Den größten Teil der Akte machen dünne Formulardurchschläge aus, an vielen Stellen von der Schreibmaschine durchstanzt. Dazwischen immer wieder Zettel aus dickerem Papier. Gegen Ende finden sich einige Blätter weißes Schreibpapier, bedeckt mit einer dünnen Handschrift und zahlreichen Tintenklecksen – das Bekenntnis meines Großvaters, ein Volksfeind zu sein. Das 78. Dokument ist eine Bestätigung, dass er das Todesurteil gelesen und verstanden hat, das ein Gericht in Kiew unter Ausschluss der Öffentlichkeit über ihn verhängte. Die daruntergekritzelte Unterschrift ist seine letzte dokumentierte Handlung auf Erden. Ganz am Ende der Akte ist ein schlechter Durchschlag abgeheftet, der die Vollstreckung des Urteils am folgenden Tag, dem 14. Oktober 1937, bestätigt. Der Vollstrecker hat mit einem nachlässigen Kringel unterzeichnet. Da die sorgfältigen Bürokraten, die die Akte zusammentrugen, vergaßen zu dokumentieren, wo er begraben wurde, umfasst dieser Stapel Papier gleichsam die sterblichen Überreste von Boris Bibikow.
Auf dem Dachboden der Alderney Street Nr. 7 in Pimlico, London, steht ein schmucker Überseekoffer, auf den in ordentlichen schwarzen Buchstaben »W. H. M. Matthews, St Antony’s College, Oxford, АНГЛИЯ« gemalt ist. Darin befindet sich eine Liebesgeschichte. Oder vielleicht eine Liebe.
Der Koffer enthält Hunderte Liebesbriefe meiner Eltern, sorgfältig nach Datum sortiert, aus der Zeit von Juli 1964 und bis Oktober 1969. Viele sind auf dünnem Luftpostpapier geschrieben, andere auf sauberem weißem Schreibpapier. Die Hälfte der Seiten – die Briefe meiner Mutter, Ljudmila Bibikowa, an meinen Vater – sind mit einer geschwungenen, geneigten und doch sehr femininen Handschrift bedeckt. Die meisten Briefe meines Vaters an meine Mutter sind maschinengeschrieben, weil er gern von jedem Brief einen Durchschlag behielt. Doch am Ende hat er immer von Hand eine kleine Notiz über seiner extravaganten Unterschrift eingefügt oder manchmal eine charmante kleine Zeichnung. Die wenigen Briefe, die er mit der Hand geschrieben hat, sind in schmaler, gerader und sehr korrekter kyrillischer Schrift gehalten.
In den sechs Jahren, die meine Eltern durch die Geschicke des Kalten Krieges getrennt waren, schrieben sie sich jeden Tag, manchmal sogar zweimal täglich. Seine Briefe sind aus Nottingham, Oxford, London, Köln, Berlin, Prag, Paris, Marrakesch, Istanbul, New York. Ihre sind aus Moskau, Leningrad, der Familiendatscha in Wnukowo. Die Briefe schildern jedes Detail, jeden Gedanken im Alltag meiner Eltern. Er sitzt an einem nebligen Abend in einem einsamen möblierten Zimmer in Nottingham und schreibt über Curry zum Abendessen und unbedeutende akademische Streitereien. Sie verzehrt sich nach ihm in ihrem winzigen Zimmer am Arbat in Moskau und schreibt über Gespräche mit Freunden, Ballettaufführungen, Bücher, die sie liest.
Manchmal ist ihr briefliches Gespräch so intim, dass ich mir bei der Lektüre ihrer Korrespondenz wie ein Voyeur vorkomme. Manchmal ist ihr Schmerz über die Trennung so intensiv, dass das Papier zu erzittern scheint. Sie rufen sich winzige Begebenheiten ins Gedächtnis aus der kurzen Zeit im Winter und Frühjahr 1964, die sie gemeinsam in Moskau verbrachten. Sie plaudern über gemeinsame Freunde und Essen und Filme. Aber vor allem sind die Briefe erfüllt von Verlust, Einsamkeit und einer
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