Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)
das meine Mutter »so luxuriös wie das Kreml-Krankenhaus« fand. Wegen ihrer deformierten Hüfte war es eine schwere Geburt, ich wurde mit der Zange in die Welt gezogen. Der Arzt sagte ihr, sie habe »ein wunderschönes Baby« – eine Bemerkung, die großen Eindruck bei ihr hinterließ und die sie in meiner Kindheit mir gegenüber oft wiederholte. Sowjetische Ärzte behielten ihre Meinung meist für sich. Mein Vater kratzte die Anzahlung für ein viktorianisches Reihenhaus für 16 000 Pfund in der Alderney Street zusammen, das meine Mutter mit orangefarbener Paisleytapete dekorierte, die sie im Schlussverkauf bei Peter Jones gefunden hatte. Zum ersten Mal seit ihrer frühen Kindheit hatte Mila eine richtige eigene Familie.
Im Winter 1978, neun Jahre nach ihrem Weggang, kehrte meine Mutter auf einen Besuch in die Sowjetunion zurück, mit mir und meiner kleinen Schwester Emily. Wir wohnten in Leninas Wohnung. Ich erinnere mich noch an den stetigen Besucherstrom; alle umarmten weinend im Flur meine Mutter, die je wiederzusehen sie nicht gehofft hatten. Ich fand alles völlig anders als in England, von den Schlangen in den Brotläden bis hin zu den gewaltigen Schneeverwehungen und der prunkvollen Metro. Ich glaubte genau zu verstehen, was Puschkin mit dem Geruch Russlands meinte. Es war ein ganz eigener Geruch, teilweise billiges Desinfektionsmittel, teilweise (wenn auch unerklärlich) der Geruch einer bestimmten sowjetischen Marke Vitamin-C-Tabletten, streng und künstlich. Russen rochen auch, auf eine Art, wie es die Engländer nie taten, ein überwältigender Körpergeruch, der nicht unangenehm war, obwohl ich das Gefühl hatte, seine Sinnlichkeit sei irgendwie nicht sehr anständig.
Obwohl ich als Kind viel gereist war, wenn wir meinen Vater besuchten, der überall auf der Welt akademische Posten innehatte, war ich in Russland zum ersten Mal überwältigt von dem Gefühl meiner eigenen Fremdheit. Alle wollten mir zeigen, wie es u nas war, »bei uns«, und alle fragten mich, ob die englische Schokolade so gut sei wie das russische Bärenwaffelkonfekt (Antwort: ja), ob wir Champagner oder Spielzeugsoldaten oder Schnee oder gar (dies von einem besonders idiotischen und patriotischen Freund meiner Cousine Olga) so gute Autos wie die sowjetischen hätten. Selbst mit sieben wusste ich, dass sowjetische Autos nichts taugten. Doch obwohl Russland in meiner Fantasie so lebendig war, hatte ich niemals, selbst damals nicht, das Gefühl, es sei etwas anderes als ein seltsamer und fremder Ort.
Nostalgie für ein verlorenes Heimatland ist ein spezielles russisches Leiden; auf den Partys der russischen Emigrantenfreunde meiner Mutter versuchten die Gastgeberinnen, in den Londoner Vororten eine verlorene Welt der Russischkeit zu erschaffen. Die Tische ächzten unter der Last von Stör und Kaviar, sauer eingelegtem Gemüse und Wodka, die Luft war vom Rauch russischer papirossy geschwängert, und geredet wurde über kürzliche oder geplante Reisen zurück in die rodina ******* . Doch meine Mutter, trotz all ihrer Emotionalität, war nie sentimental, was das Vaterland anging, und ich glaube nicht, dass sie Russland je wirklich vermisste – zumindest nicht mehr, nachdem sie das erste qualvolle Heimweh nach ihrer Ankunft in England überwunden hatte. Meine ganze Kindheit hindurch war sie immer voll des Lobes angesichts dessen, was sie für die englischen Tugenden der Pünktlichkeit, Gründlichkeit und des guten Geschmacks ansah; das Einzige, was sie ärgerte, war der englische Geiz, den sie als Gemeinheit des Geistes betrachtete. Was sie mit den anderen Emigranten teilte, war eine tiefe Verachtung für das sowjetische Regime und eine Liebe für die neuesten zynischen politischen Anekdoten aus Russland. Einer ihrer Lieblingswitze war über Breschnews Mutter: Die alte Frau besucht ihren Parteichefsohn in seiner luxuriösen Villa am Meer und bewundert nervös die Bilder, die Möbel und die Autos. »Es ist wunderbar, Sohn«, sagt sie, »aber was machst du, wenn die Roten wiederkommen?«
Milas Beispiel erwies sich als ansteckend. Einer nach dem anderen sollten fast alle ihre Freunde und Verwandten entweder Russland verlassen oder Ausländer heiraten. 1979 erhielten Leninas ältere Tochter Nadja und ihr jüdischer Mann Juri, der auf Milas Hochzeit den Fotografen angeschrien hatte, die Erlaubnis zu emigrieren; sie gingen mit ihrer kleinen Tochter Natascha nach Deutschland. Sascha weinte am Flughafen hysterisch und versuchte, auf
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