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Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)

Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)

Titel: Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Owen Matthews
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der Werte scheintot waren und man erschreckend frei war, die hässlichsten Winkel des eigenen schwarzen Herzens zu erkunden.
    Doch trotz der guten Zeiten rächte sich Moskau letztlich an seinen neuen Herren und spielte heimtückisch mit fremden Psychen. Man sah junge Männer, die als fröhliche, wohlgenährte Jungs angekommen waren und innerhalb eines Jahres den harten, schweigsamen Blick hatten, den man sonst mit Zirkusleuten in Verbindung bringt. Selbstsüchtige junge Hedonisten wurden schnell zu selbstsüchtigen psychotischen Monstern – zu viel sexueller Erfolg, Geld, Wodka, Drogen und Zynismus innerhalb zu kurzer Zeit.
    Patti allerdings schaffte es, sich ihre Hippiefröhlichkeit zu bewahren. Ein Bild aus der Zeit hat sich mir eingebrannt. Es war im Sommer, sehr früh am Morgen, und ich wachte auf, weil Patti in meinem Zimmer war und in meinem Schreibtisch wühlte, völlig nackt, auf der Suche nach übrig gebliebenen Amphetaminen. Sie musste ganz früh fliegen, eine weitere Geschäftsreise nach Sibirien, um dort Fabriken aufzukaufen. Ich stolperte ins Bad, sah in den Spiegel und blickte Nosferatu in die Augen. Patti, die der chemische Weckruf aufgemöbelt hatte, klapperte fröhlich in ihren Prada-Sandalen den Flur entlang, ihre Ralph-Lauren-Taschen hinter sich her zerrend, und rief einen Abschiedsgruß.
    »Patti, mein Schatz, wann kaufst du mir eine Fabrik?«, rief ich aus dem Bad.
    »Bald, Süßer, sehr bald, wenn wir alle seeehr, seeehr reich sind! Tschüüüüs!«

    Als der Herbst 1965 näherrückte, machte Mervyn sich bereit, seine Zimmer im St Anthony’s für immer zu verlassen. Er hatte eine Dozentenstelle an der Universität Nottingham angenommen; seiner eigenen Einschätzung nach eine Stelle »am Tabellenende der zweiten Liga« der Universitäten. 14 Monate Bemühungen um Mila hatten zu nichts geführt, und die Einsamkeit fraß sich in ihn hinein. Während seiner letzten Wochen in Oxford fuhr er immer wieder hinaus in die Wytham Woods und ging allein unter den Bäumen spazieren.
    »Ich bin heute Abend sehr traurig. Deshalb schreibe ich Dir, das hilft«, schrieb Mervyn. »In Deinen Briefen hat mich getroffen, was Du über Deine einsamen Spaziergänge schreibst. Sprichst Du wirklich mit mir, rufst nach mir? Ich glaubte den ganzen Abend Deine Stimme zu hören, tief und süß und singend, auch wenn ich Dir nicht antworten konnte. Ich denke oft an Dich, und Du bist immer bei mir … Ich habe gedacht, wie schön es wäre, wenn Du hier wärst. Wir könnten zusammen im Garten in der Sonne sitzen oder etwas zusammen unternehmen. Mein Kummer ist fast unerträglich, aber nach einer Weile lässt er nach, und ich kann mich zusammenreißen und arbeiten.«
    Mit dem Ende seiner Laufbahn in Oxford kam die Verzweiflung. Konventionelle Methoden führten eindeutig zu nichts, und so fing Mervyn an, über unorthodoxere Wege nachzudenken. In einer letzten großmütigen Geste bot das St Anthony’s Mervyn an, ihm eine Reise nach Wien zu einer Konferenz zu bezahlen, obwohl er nicht geforscht und keine Arbeit vorzuweisen hatte. Die einzige Bedingung war, dass Mervyn »keine Dummheiten« machte, wie Theodore Zeldin, einer der Fellows am St Anthony’s, ihm einschärfte.
    Die Konferenz war eine noble Angelegenheit, mit Banketten und endlosen Reden. Mervyn schlich sich davon und aß allein in einem russischen Restaurant namens »Feuervogel«, das einem riesigen verschwitzten Russen gehörte, der auch an den Tischen bediente und Wodka ausschenkte, den man gar nicht bestellt hatte. Ein bulgarischer Gitarrist sang traurige Lieder und zankte sich mit dem Besitzer.
    Mervyn plante tatsächlich ein paar »Dummheiten«. Er wollte an dem Tag, an dem die Konferenz zu Ende war, unbemerkt in die Tschechoslowakei reisen und dort einen vertraulichen Brief abschicken, von dem er hoffte, er würde sein Schicksal wenden. Obwohl damals kein Visum erforderlich war und die Zugfahrt nach Prag nur drei Stunden dauerte, konnte Mervyn in der Nacht vor seiner Abfahrt nicht schlafen, aus Angst, wie Gerald Brooke geschnappt zu werden. Doch die Reise verlief ohne Zwischenfälle; die Grenzbeamten schimpften über seinen Pass, stempelten ihn aber ab.
    Mervyn kam am 6. September 1965 in Prag an und bezog ein Zimmer in dem heruntergekommenen Hotel Slovan. Er fand Prag lebendiger als Moskau und entdeckte sogar einen schmuddeligen Nachtklub, in dem er ein einsames Glas Wein trank. In jener Nacht setzte er sich hin und schrieb einen langen, freimütigen Brief

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