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Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)

Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)

Titel: Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Owen Matthews
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an Alexei. Mervyn legte deutlich dar, welche propagandistischen Vorteile es hätte, Mila gehen zu lassen, und bot eine »beträchtliche« Summe für den Fall, dass es dazu kommen sollte. Er zitierte Fälle von Polen und Ostdeutschen, die sich freigekauft hatten, inoffiziell, aber legal. Er würde Russland helfen, und auch wenn er selbst nicht reich sei, so könnte er doch Wohltäter finden. Das Geld könnte in »wohltätige Zwecke« in der Sowjetunion fließen. »Wir sind etwa gleich alt, Alexei, und wir können ernsthaft und ehrlich sprechen. Bitte hilf mir!«, flehte Mervyn.
    Anders als Mila schien Mervyn immer noch Illusionen bezüglich der fundamentalen Anständigkeit des KGB, oder zumindest Alexeis persönlich, zu hegen. Allerdings bot er in seinem Brief nicht seine Kooperation an – aber zu jenem Zeitpunkt wäre ein solches Angebot vermutlich ohnehin nicht angenommen worden. Er gab den Brief am Morgen im zentralen Postamt ganz in der Nähe des Wenzelsplatzes als Einschreiben auf. Er erhielt nie eine Antwort.

    Vielleicht fanden meine Eltern etwas in ihrer Trennung, was in Einklang stand mit einer emotionalen Kargheit, die sie beide aus ihrer Kindheit mitgenommen hatten. Aber es kam der Punkt, ziemlich früh in ihrer Briefbeziehung, an dem sie so viel ihres Lebens in die Briefe strömen ließen, dass das Niederschreiben der Erfahrung die Erfahrung selbst überholte. Das Material wurde zu gewaltig, der Prozess, das Erlebte in Geschichte zu verwandeln, begann, sie ihrer Gegenwart zu berauben.
    In Moskau hatte sich Mila in den privaten Ritualen ihrer Fernbeziehung eingerichtet. Bevor sie zur Arbeit ging, küsste sie Mervyns Foto. Auf dem Weg nach Hause kaufte sie Schallplatten für Mervyn, damit er und seine Freunde zusammen russische Musik hören könnten. Sie konsultierte ihren Arzt zu Mervyns Unpässlichkeiten. In fast jedem Brief kommt sie auf Mervyns Ernährung zu sprechen, aus der Besessenheit heraus, die sie aus ihrer Kindheit mitgenommen hat.
    »Hörst Du auf Deine Mila? Bitte, Mervyn, iss nicht zu viel Pfeffer, Essig und andere Gewürze. Trinkst Du Deine Milch? Ich trinke jeden Abend einen halben Liter. Iss ordentlich, wie ich es Dir beigebracht habe, viele frische Dinge.« Wenn Mervyn einzuwenden versuchte, dass er gern ab und zu ein Curry aß, wollte Mila nichts davon hören. »Ich respektiere Deine Vorlieben, aber ich fürchte, manche davon schaden Deiner Gesundheit – ich meine, was ich Dir in Moskau gesagt habe, nämlich Deine Leidenschaft für östliches, kaukasisches und indisches Essen. Es ist zu scharf für Dich, Du bist ein Mensch aus einem maritimen Klima. Dieses Essen ist für Menschen mit starken Mägen, aber Du bist eine zarte Nordpflanze, Du musst vorsichtig essen.«
    Mila bat um Kleidung, die Mervyn in London kaufte (und dabei scherzend in seinen Briefen wegen der Ausgaben murrte) und über Dinnerman’s nach Moskau schickte, den einzigen autorisierten Paketversand in die Sowjetunion. Mila kaufte Bücher und schickte sie in braunem Packpapier und mit grober Schnur eingewickelt nach London an Mervyn. Bald schon standen Hunderte auf seinen Regalen.
    Milas virtuelle Beziehung zu Mervyn wurde zu einer regelrechten Obsession. Sie tauchte tief in eine von ihr selbst erschaffene imaginäre Welt ein. »Es ist, als lebte ich völlig in einem komplexen Mechanismus namens Mervyn. Ich sehe um mich herum all seine Schrauben und Rädchen«, schrieb sie. »Du bist der Sinn, das Ziel meines Lebens … Bald werde ich eine neue Religion ausüben, den Merwusismus, und ich werde dafür sorgen, dass alle an meinen Gott der Freude und der Wärme glauben.«
    In vieler Hinsicht erschien ihr das Leben, das in dem Strom Briefe stattfand, realer als ihre Begegnungen mit den echten Menschen um sie herum. »Ich habe keine Gegenwart, nur eine Vergangenheit und eine Zukunft, wenn ich an sie glauben kann«, schrieb sie. »Alles um mich ist tot, ich wandere durch die Ruinen auf nur ein Ziel, auf Dich zu.« Sie lebte für Mervyns Briefe. »Alles andere erfinde ich nur, um die Zeit auszufüllen.«
    Mila beschrieb, wie sie im warmen Nieselregen im Hof in der Starokonjuschenny-Pereulok saß und laut auflachte, als sie Mervyns neueste Briefe las, während eine alte Oma mit Raubvogelgesicht aus einem Kellerfenster spähte. »Es war, als wären mir Flügel am Rücken gewachsen«, schrieb sie. »Deine ganze Seele, in der Form von Papier und Tinte, floss wie ein klarer Strom in mich hinein und erfüllte meinen Körper und meine

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