Winterliebe
Grotte.
4
Zur selben Zeit in München…
"Jetzt reicht es mir”, stöhnte Waltraude Pessacker. "Ich bin fix und fertig.”
In einer Ecke hingen - völlig weltvergessen - Milena Schobern und Rigobert Köberl wie Kletten aneinander.
Adalbert Siebenstern schüttelte schmunzelnd den Kopf und meinte neidlos: "Nun sieh dir die beiden an.”
"Sie haben sich gesucht und gefunden.”
"Genau wie wir.”
Waltraude sagte nichts. Sie bedachte Adalbert nur mit einem langen, neugierigen Blick. Gefunden? Wirklich? Nun, es würde sich zeigen. Ein Schleier der Müdigkeit hing über ihren großen blauen Augen und ließ sie ein wenig trübe aussehen.
"Ich bringe dich heim”, sagte Adalbert.
Sie wohnten beide in Haidhausen, verkehrten in denselben Lokalen, deshalb kannten sie sich schon länger. Sie hatten hin und wieder ein paar Worte miteinander gewechselt, aber merklich nähergekommen waren sie sich erst in dieser Silvesternacht.
In Waltraudes Brust regte sich ein wunderbares Gefühl. Gütiger Himmel, ist das etwa Liebe? fragte sie sich, von wohligen Schauern durchrieselt.
Sie Claudettebschiedeten sich von niemandem, verschwanden einfach. Die meisten G"ste waren bereits gegangen, und jene, die noch da waren, sahen alle irgendwie gleich aus: sie hatten rote Augen, leere Blicke und blasse Gesichter - wie Zombies. Denen brauchte man nicht auf Wiedersehen zu sagen. Die bekamen sowieso nicht mehr richtig mit, was um sie herum passierte.
Dicke Mäntel wärmten Waltraude und Adalbert. Eng umschlungen hielten sie nach einem Taxi Ausschau, aber jene, die an ihnen vorbeifuhren, waren alle besetzt.
"Ich fürchte, wir müssen laufen”, sagte Adalbert bedauernd.
"Macht nichts”, erwiderte Waltraude, obwohl ihr die Füße wehtaten. "Ist ja nicht sehr weit.”
Während sie Richtung Isar gingen, sah sich Adalbert immer wieder um, doch je weiter sie gingen, desto weniger lohnte es sich, noch ein Taxi zu nehmen.
"Verrückter Zufall”, bemerkte Waltraude lächelnd.
"Weil Milena und Rigobert heute Nacht zueinandergefunden haben?”
"Das auch”, sagte Waltraude leise. Ihr Kopf ruhte auf Adalberts Schulter.
"Was noch?”
"Ich hätte eigentlich mit meiner Mutter Silvester feiern sollen”, verriet Waltraude.
"Wurde sie kurzfristig von Freunden eingeladen?”
"Sie musste für eine plötzlich erkrankte Kollegin einspringen”, erklärte Waltraude. "Sie hat Nachtdienst.”
"Nachtdienst?”
"Sie ist OP-Schwester in der Kronwasser-Klinik”, sagte Waltraude.
"Da hat sie heute Nacht bestimmt einiges zu tun. All die vielen Betrunkenen, die im Suff sich und andere gefährden - Stürze, Autounfälle, Feuerwerkskörper, die zwischen Menschen explodieren… In Silvesternächten schnellt die Zahl der Verletzten durch Übermut, Gedankenlosigkeit und Dummheit immer gewaltig nach oben.”
Sie erreichten die Isar, gingen über die Ludwigsbrücke. Unter ihnen befand sich die schmale Museumsinsel mit dem Kongresssaal und dem Deutschen Museum.
In der Rosenheimer Straße kam ihnen ein freies Taxi entgegen. Adalbert wollte es anhalten, doch Waltraude sagte: "Das zahlt sich jetzt nicht mehr aus.”
Zehn Minuten später standen sie vor dem Haus, in dem Waltraude mit ihrer Mutter lebte. Einen Vater hatte sie nicht. Er war vor zehn Jahren von einem Lastwagen überfahren worden. Sie konnte sich nur noch dunkel an ihn erinnern.
Wenn es nicht die Fotos in Mutters Schlafzimmer gegeben hätte, hätte Waltraude kaum noch gewußt, wie er ausgesehen hatte. Er war so blond wie sie gewesen.
Und schlank. Mehr als schlank. Überschlank. Fast schon beunruhigend untergewichtig. Dabei aber kerngesund. Und ein begeisterter Sportler.
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