Wintermörder - Roman
Aufschrei. Schließlich brüllte Vera. Sarah schrie. Der Hörer wurde aufgeknallt und Ruhe.
»O Gott.« Sie schaltete das Telefon ab.
»Ärger?«, fragte Liebler und hatte wieder diesen fixierenden Blick.
»Wir suchen eine Pflegekraft für meinen Vater. Er hatte vor einem Jahr einen Schlaganfall.«
Warum erzählte sie ihm das?
Er nickte. »Mein Vater ist vor zwei Wochen gestorben. Ich komme gerade von seiner Beerdigung aus Österreich.«
»Das tut mir leid.«
»Muss nicht. Ich habe ihn über zwanzig Jahre nicht gesehen.« Er lachte kurz auf. »Damals habe ich ihn aufgesucht in dem Wahn, ich müsste wissen, woher ich komme, um zu wissen, wohin ich will.«
Er holte die blaue Schachtel Gauloises aus der Jackentasche, schüttelte eine Zigarette heraus und zündete sie an, während er Myriam mit zur Seite geneigtem Kopf neugierig beobachtete.
Myriams Hals wurde trocken. Sie konnte sich genau erinnern, wie sie sich fühlte, wenn sie rauchte. Verdammt leicht. Weltraumartig leicht. Das Bedürfnis wurde immer dringender. Wenigstens einmal ziehen. Sie seufzte.
»Wollen Sie auch eine?« Liebler streckte ihr die Packung entgegen.
»Hab aufgehört!« Ihre Stimme krächzte.
»Neues Jahr?«
Sie nickte.
»Shit«, antwortete Henri Liebler. »Aber trösten Sie sich. Mein Arzt hat mir geraten abzunehmen. Das ist mir gelungen, aber dafür rauche ich jetzt. Beides ist ungesund. Aber das ganze Leben ist ungesund.«
Henri Liebler fuhr auf der schneebedeckten Straße sicher und ohne Nervosität. Der einzige Grund, weshalb sie nur langsam vorankamen, waren die anderen Autos. Sonntagsfahrer schoben sich genetisch gesteuert wie Lemminge die Saalburg hoch, um sich oben am Scheitelpunkt in die Tiefe zu stürzen.
Erneut begann es zu schneien. Große Flocken schlugen an die Windschutzscheibe. Seit Wochen war Myriam nicht aus der Stadt herausgekommen. Die weiße Pracht machte sentimental. Dazu Blues. Lieblers Hand schlug im Takt auf das Lenkrad. Sein Kopf bewegte sich im Rhythmus der Musik. Sie warf ihm einen Blick von der Seite zu. Ein leises Lächeln lag in seinen Mundwinkeln. Es hatte sich dort offenbar für alle Zeiten eingenistet.
Nein, sie hatte nicht vergessen, dass sein alkoholisierter Atem ihr an der Weihnachtsfeier ein schönes Fest gewünscht hatte. Mit diesem hormonell aufgeladenen Blick, als ob er schielte. Fand er sie etwa attraktiv? Lächerlich, dass sie ausgerechnet bei Liebler der Gedanke an die Liebe überkam. Das konnte nur am Nachnamen liegen.
Der Anblick von Henriette Winklers verdrehten Beinen ging Myriam nicht aus dem Kopf. Tiefes Mitleid erfüllte sie. Nach einem langen, erfüllten Leben so zu sterben, war schrecklich. Sie hatte die alte Frau nicht besonders gut gekannt, war ihr nur einige Male begegnet. Dennoch empfand sie Trauer. Offensichtlich starben jetzt Menschen, die jahrelang zum festen Bestandteil ihres Lebens gehört hatten. Die Reise nach Jerusalem hatte begonnen. Sie musste lernen, auch damit klarzukommen.
Je näher sie dem Dorf hinter Bad Homburg kamen, desto nervöser wurde Myriam. Denise. Nach dem Abitur war der Kontakt abgebrochen. Es war nicht nur die Sache mit Mike gewesen. Sondern auch Neid ihrerseits, gepaart mit dem Gefühl der Unterlegenheit. Eine ekelhafte Mischung aus der Giftküche der Emotionen. Als sie in der Fabrik jobbte, um Geld zu verdienen, war Denise nach dem Abitur nach Hamburg gegangen, dann nach New York. Eine Wohnung direkt an der Alster, dann mitten in Manhattan. Während Myriam ihr Jurastudium an der Goethe-Universität in Frankfurt aufnahm. Warum sollte ihr Vater eine Wohnung in Berlin oder München zahlen, wenn sie bei ihren Eltern kostenlos wohnen konnte?
Mehr als fünf Jahre hatte es gedauert, bis sie den Ab-sprung aus Frankfurt endlich geschafft hatte. Wenn auch nur vorübergehend. Und Kassel war nicht Hamburg, Frankfurt nicht New York, Deutschland nur Provinz. Warum nur hatte sie sich als Beamtin auf Lebenszeit an dieses Land gekettet? Wie das Leben so spielt, wenn man die Regeln einhält.
Liebler hatte inzwischen begonnen mitzusummen. Seine Stimme war tief und voll. Dennoch zerrte die Musik an ihren Nerven. Sie waren gespannt wie die Saiten der Gitarre. Elvis Presley spielte auf ihren Nerven
Love Me Tender.
Wie würde Denise reagieren, wenn sie sie sah?
»Haben Sie keine andere Musik?«, fragte Myriam gereizt. »Die raubt einem ja den letzten Nerv.«
»Wie wollen Sie eine Mordermittlung überstehen, wenn Sie noch nicht einmal Elvis ertragen?«, antwortete
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