Wintermörder - Roman
Kinder sind«, versuchte Denise sich zu beruhigen. »Zwanzig Minuten. Es ist nur zwanzig Minuten über der Zeit. Sie stehen irgendwo und erzählen sich was.« Sie bemühte sich, ruhig zu bleiben, doch spürte sie, wie die Nervosität von ihr Besitz ergriff wie eine leichte Übelkeit, von der man glaubt, dass man sie sich nur einbildet.
»Kommt mit in die Küche, ich muss etwas trinken.«
Der Kühlschrank hatte die Größe eines Kleiderschrankes, war aber weitgehend leer. Denise zog die Wasserflasche heraus, goss sich ein Glass voll und trank es gierig leer. Dann richtete sie den Blick auf die Besucher. »Möchtet ihr auch?«
Myriam und der Mann schüttelten den Kopf.
In alter Gewohnheit zog Denise an ihren Haaren, wie immer wenn sie nervös war. Dann fiel ihr etwas ein. Sie nahm die Fertigpizza aus dem Gefrierfach.
»In welchem Verhältnis stehen Sie zu Henriette Winkler?«, fragte plötzlich der Mann, dessen Name sie vergessen hatte.
»Henriette? Sie ist meine Großmutter. Ist etwas passiert?«
Natürlich war etwas passiert. Doch das Wichtigste war, sie waren nicht wegen Frederik hier.
Myriam sprach es schließlich aus: »Sie ist tot.«
»Tot? Das kann nicht sein, ich habe doch gestern noch mit meinem Vater telefoniert. Da war alles in Ordnung.«
»Sie ist erfroren.«
»Erfroren?«
Vor Schreck stieß ihre Hand gegen die Wasserflasche. Myriam konnte sie gerade noch fangen. Denise griff nach dem Küchenhandtuch, um die Arbeitsfläche trocken zu reiben. Der Schreiner hatte versprochen, dass das Holz robust sei, doch die ersten Flecken zeigten sich bereits. Oliver hatte schon alles in die Wege geleitet, um den Handwerker zu verklagen.
Wo blieb nur Frederik? Verdammt.
»Frau Hirschbach hat sie auf der Terrasse gefunden«, erklärte Myriam. »Sie wurde überfallen.«
»Überfallen?« Denise’ Herzschlag wurde zu einem dump-fen Pochen, ähnlich den Hammerschlägen in einer Schmiede. Funken der Angst flogen durch die Luft.
Von weitem hörte sie Myriam sprechen. »Der Täter hat sie im Wohnzimmer niedergeschlagen und anschließend ins Freie gezerrt, sie dort mit Wasser übergossen und in der Kälte liegen lassen.«
Die Übelkeit war nun keine Einbildung mehr. Sie war nicht zu ignorieren. Sie war ein Vorbote der Panik.
Ihre Großmutter war überfallen worden? Warum?
Wo blieb nur Frederik? Schluss mit dem Reden. Sie musste ihm entgegengehen. »Der Schulhort ist doch jetzt schon eine halbe Stunde geschlossen.« Sie ließ die Armbanduhr nicht mehr aus den Augen. »Er müsste längst hier sein.« Sie murmelte mehr, als dass sie Worte formulierte.
»Kommt er alleine aus der Schule?«, fragte der Mann.
»Bis zur Bushaltestelle geht er mit seinem Freund Daniel. Die restlichen zweihundert Meter allein.«
»Vielleicht ist er mit seinem Freund nach Hause? Oder er hat seinen Schlüssel vergessen. Er hat sicher angerufen«, versuchte Myriam sie zu beruhigen.
»Natürlich.« Denise fiel ein Stein vom Herzen. »Er hat angerufen.«
Sie rannte in den Flur auf das Telefon zu. Tatsächlich blinkte das rote Signal des Anrufbeantworters.
Sie drückte die Abhörtaste.
Eine Kinderstimme:
Frederik Winkler
. Dann eine Pause.
Nein, ich bin nicht zu Hause
. Wieder Stille.
Und meine Eltern auch nicht. Aber Sie können auf das Band sprechen.
Dann die blecherne Automatenstimme:
Sie haben drei neue Anrufe.
Montag, 23. Januar, acht Uhr und fünfzehn Minuten.
Oliver Winklers Stimme klang gehetzt.
Hier Oliver. Habe es gestern nicht mehr geschafft anzurufen. Das Projekt läuft gut. Morgen wollen wir die Verträge unterschreiben. Alles in Ordnung mit Frederik?
Montag, 23. Januar, acht Uhr und dreißig Minuten. Hier spricht die Grundschule. Ihr Sohn Frederik Winkler ist heute nicht zum Unterricht erschienen. Ich möchte nur nachfragen, ob er krank ist.
Und schließlich erneut die gelangweilte Stimme der Schulsekretärin, die lediglich ihre Pflicht erfüllte, ohne zu ahnen, was diese Nachricht bedeutete:
Noch einmal die Grundschule. Bitte rufen Sie zurück wegen der Krankmeldung Ihres Sohnes.
Denise war nur wenige Sekunden ohne Bewusstsein gewesen. Nicht lange genug, um zu vergessen. Sobald sie zu sich kam, war die Übelkeit wieder da. Sie begann zu zittern, und ihre Zähne schlugen aufeinander. Ihr wurde warm, als jemand ihr eine Wolldecke um die Schultern legte. Es war dieser Beamte … wie war sein Name?
»Sie waren für kurze Zeit weg.«
Er hatte eine angenehme Stimme, beruhigend und fürsorglich. Sie stellte fest, dass ihre
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