Wintermord
half alles nichts – er musste nun mal dafür sorgen, dass die Leute sich an die Arbeit machten.
Zehn Minuten später machte ihn Karin Beckman auf sein irritierendes Getrommel mit dem Kugelschreiber aufmerksam, indem sie ihm beruhigend die Hand aufs Handgelenk legte. Es war die Unruhe, die ihn jedes Mal zu Anfang einer Mordermittlung packte.
Links von Tell saß Bengt Bärneflod, der jeden Tag müder wirkte. Tell ertappte ihn häufig dabei, wie er am Arbeitsplatz Kreuzworträtsel löste. Außerdem äußerte er sich immer öfter auf nicht besonders sympathische Weise über Einwanderer. Im Job ergriff er nur noch selten die Initiative, doch besonders in kritischen Situationen war er nützlich. Dann kam ihm seine gemächliche Art zugute: In Bengts Gegenwart wurde der durchgeknallteste Verbrecher wenn nicht vernünftig, so doch zumindest ansprechbar.
Neben ihm saß Andreas Karlberg, der im Unterschied zu Bengt überhaupt keine festen Ansichten zu irgendetwas hatte. Er war ehrgeizig und richtete sein Fähnchen meistens nach dem Wind. Tell war bewusst, dass er ihn nicht ganz gerecht beurteilte, aber wenn er erst mal in Fahrt war, konnte er sich nicht mehr bremsen.
Karin Beckman war eine erfahrene Kollegin. Als sie damals begann, war sie eine vielversprechende Kriminalbeamtin – bis sie Kinder bekam, dachte Christian Tell mit einer gewissen Bitterkeit. Natürlich hätte er nie gewagt, solche Gedanken laut auszusprechen. Schlag fünf Uhr ließ sie den Bleistift fallen und ging nach Hause, unter Berufung auf irgendein Gesetz und die Gewerkschaft. Ihre beiden Töchter besuchten den Kindergarten, und alle naslang fehlte sie, weil sie ein krankes Kind pflegen musste. Doch irgendwann musste es ja besser werden – die Kinder wurden größer, und mehr würden es wohl auch nicht werden. Sie war ja mittlerweile schon vierzig.
Wenn sie aber arbeitete, war sie eine gute Polizistin. Sie besaß eine gute Menschenkenntnis und eine psychologische Kompetenz, die er nicht in Abrede stellen wollte. Demnächst sollte sie ihre Grundausbildung als Psychotherapeutin abschließen, eine Fortbildungsmaßnahme, die sie vor zwei Jahren beantragt hatte. Es würde dem Team auf jeden Fall guttun, wenn man wieder mit ihr als Vollzeitkraft rechnen konnte.
Über Michael Gonzales hatte Tell noch keine rechte Meinung. Er war erst ein knappes Jahr dabei und hatte noch bei keiner größeren Ermittlung mitgewirkt. Gonzales war der Einzige, der in einer Gegend aufgewachsen war, die einen besonders hohen Beitrag zur Kriminalstatistik lieferte. Diese Kontakte und Erfahrungen konnten der Polizeieinheit durchaus zugute kommen. Obwohl Gonzales seit zehn Jahren erwachsen war, wohnte er noch zu Hause und hatte wohl auch keinerlei Umzugspläne. Wozu auch den Rundum-Service von Mama Gonzales gegen eine Junggesellenbude mit Bergen von schmutzigem Geschirr und Wäsche eintauschen?
Doch er schien intelligent genug zu sein, um nicht zu erwarten, auch außerhalb seines Elternhauses wie ein Prinz behandelt zu werden. Tell vermutete, dass das Frauenbild seines jungen Kollegen gleichberechtigter aussah, als er zugeben wollte, aber in jedem Fall war Gonzales ein gelehriger Kriminalpolizist. Außerdem war er ein unverbesserlicher Optimist, was in ihrem Beruf auch nicht zu verachten war.
Versöhnlich ließ Tell seine Blicke wieder zu Karlberg wandern. Es war wirklich ungerecht, zu behaupten, dass er sein Fähnchen immer nach dem Wind richtete. Er war durchaus tüchtig. Karlberg arbeitete im stillen Kämmerlein seine meist gut durchdachten Hypothesen aus, ohne großes Aufheben davon zu machen.
Am Türrahmen lehnte Kriminalpolizeichefin Ann-Christine Östergren, wie jeden Tag von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet: schwarze Samthose und ein Poloshirt. Beides bildete einen starken Kontrast zu ihrem auffälligsten Kennzeichen, dem weißen krausen Haar. Wie eine Wolke umrahmte es ihr von Falten durchzogenes Gesicht.
Sie war eine gute Chefin, darüber war sich die Truppe einig. Sie war erfahren und besaß nach einem langen Arbeitsleben als Polizistin und als Frau in einer männerdominierten Umgebung beträchtliche Durchsetzungsfähigkeit. In den sechs, sieben vergangenen Jahren, in denen sie diese Position ausfüllte, hatte sie eine starke Vertrauensbasis zu ihren Mitarbeitern aufgebaut, obwohl zu Anfang viel darüber getuschelt wurde, dass sie aufgrund unüberwindbarer Konflikte von ihrem vorherigen Arbeitsplatz hierher versetzt worden war.
Was Tell an ihr am meisten
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