Wintermord
doch der Rauch erfüllte den kleinen Raum trotzdem sofort. Seja spürte, wie Übelkeit in ihr aufstieg, und plötzlich war sie wütend auf diesen Mann, der zu glauben schien, dass die Welt nur da war, um von ihm herumkommandiert zu werden.
Doch dann drückte er seine Zigarette nach zwei Zügen aus. »Um zu Ihrer Geschichte zurückzukommen, Sie haben gesagt, dass das Auto kaputtging und Sie von der Haltestelle nicht mehr wegfahren konnten. Sie mussten also jemand anrufen, der Ihnen half. Das Auto, mit dem Sie jetzt gekommen sind, ist nicht das kaputte, oder?«
»Nein, den Opel musste ich oben an der Straße stehen lassen. Ich hatte kein Seil mehr, um das Auspuffrohr hochzubinden ...«
»Verstehe. Aber ich nehme doch an, die Person, die Ihnen zu Hilfe kam, ist dieselbe, die den dunkelblauen Hyundai gefahren hat, mit dem Sie vorhin kamen?«
Er sah durch das beschlagene Fenster. Der Hyundai war gut zu erkennen. »Wem gehört das Auto?«
Er schaut aufs Kennzeichen.
»Mir«, erklärte Seja hastig.
Ihr erster Impuls war, aufzustehen und hinauszugehen.
»Jemand hat sich also Ihr Auto geliehen, um Sie aufzusammeln. Haben Sie denjenigen wieder irgendwo abgesetzt, bevor Sie hierherkamen?«
Åke holte etwas zu tief Luft und nickte. »Genau. In Hjällbo. Kristina, meine Frau, hat uns geholfen. Sie hat eine Schwester in Hjällbo, die besucht sie manchmal. Ich ... wir haben sie da rausgelassen.«
Jetzt war er nicht mehr blass, sondern puterrot im Gesicht. An seiner Schläfe pulsierte eine kleine Ader.
Seja wollte die Scharade gerade beenden und mit der Wahrheit rausrücken. Wollte zugeben, dass sie von einer heftigen Neugier getrieben worden war und eine Kriminalreportage hatte schreiben wollen oder einfach nur zum ersten Mal einen toten Menschen sehen.
Da klappte Tell auch schon seinen Notizblock zu. »Ich hab gesehen, dass der Rücksitz runtergeklappt war.«
Diese Bemerkung riss Seja aus ihren Gedanken.
»Ich hab neulich Pferdefutter gekauft.«
Sie verschüttete ihren Kaffeerest. Ein dünnes Rinnsal lief bis zur Tischkante und tropfte ihr aufs Knie.
Christian Tell reichte ihr eine Rolle Toilettenpapier von dem Regal neben sich. »Wo saß Kristina?«, fragte er.
»Sie fuhren, Åke saß auf dem Beifahrersitz, und der Rücksitz war runtergeklappt. Wo saß Kristina?«
Seja tupfte sich umständlich das Hosenbein ab. Als ihr das Schweigen über den Kopf wuchs, seufzte sie. »Nirgends. Sie war gar nicht dabei. Ich habe gelogen, weil ich Åke nicht im Stich lassen wollte.«
Tell nickte schroff. »Dann fangen wir am besten noch mal von vorn an.«
4
1993
Früher lag ein Armenhaus in der Nähe des Bergsees, wo sich ansonsten nur Kieswege spinnwebartig durch die bewaldete Landschaft zogen.
Noch heute steht das zweistöckige rote Haus mit seiner hohen Grundmauer am Waldrand. Der kiesbestreute Vorplatz hat sich nicht verändert, nur stehen jetzt gerade drei nachlässig geparkte staubige Autos vorm Haus.
Auf dem Van steht »Volkshochschule Stensjön«. Tatsächlich werden die Räumlichkeiten von der Volkshochschule genutzt. Bald wird sie die Geschichte dieses Hauses kennen. Sie wird auch wissen, dass es im Sommer unterm Dach brütend heiß ist – sie wird eine der wenigen sein, die Stensjön in den Sommerferien nicht verlässt. Im Winter brennt im Wohnraum im Erdgeschoss ein Kaminfeuer, aber die Wärme strahlt nicht bis in die Zimmer der Schüler. Die elektrische Heizung ist zwar voll aufgedreht, hält aber kaum die schlimmste Kälte ab.
My hat fast einen ganzen Tag für die Anfahrt gebraucht. Die Reise mit Zug und Bus hat etwas von einem Reinigungsprozess: Sie lässt Borås mit seinen Vororten und Randbezirken genauso hinter sich wie ihr früheres Leben. Niemand aus ihrem Bekanntenkreis weiß, wohin sie fährt. Vielleicht begeht sie damit einen Verrat, aber niemand kann sie zur Rede stellen.
Sie ist kaum achtzehn, da kommen einem drei Jahre vor wie eine halbe Ewigkeit. Niemand wird sich an sie erinnern, wenn sie eines Tages zurückkehrt. Alle, mit denen sie in ihren Teenagerjahren eng verbunden war, werden zu diesem Zeitpunkt schon den Schritt in die Erwachsenenwelt getan haben, von der sie noch nicht allzu viel wissen. Auch nichts wissen wollen.
Der Gedanke an Flucht war schon immer wie Balsam für ihre Seele. Oft griff sie zu Drogen: Gras, Trips oder auch Amphetamine, die sie in kleine Stückchen Zigarettenpapier wickelte und mit Wasser hinunterspülte. Als sie jetzt flieht, hat sie das Gefühl, ihre allerletzte
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