Wintermord
und ihr neu eröffnetes Textilgeschäft – die Verwirklichung eines Traums –, hatten sie sich immer weiter voneinander entfernt. Lars schlief immer öfter beim Fernsehen auf dem Sofa ein. Sie hörte, wie die Fernbedienung zu Boden fiel. Wenn sie im Morgengrauen nach unten kam, schneite es auf dem Bildschirm. Er machte sich auch nicht mehr die Mühe zu duschen, wenn er nach der Arbeit ins Bett ging, und der Geruch von Öl und Benzin dämpfte ihr Interesse am ehelichen Zusammenleben.
Außerdem verbrachte er immer mehr Zeit in der Dunkelkammer – das war sein zweites Standbein, auch wenn die Grenze zwischen Arbeit und Hobby verschwimmt, wenn eine Beschäftigung nur Zeit verschlingt und kaum Geld bringt. In den Achtzigern hatte er einen Bildband veröffentlicht, der ziemlich gute Kritiken erhalten hatte, aber mittlerweile bekam er nur noch kleinere Auftragsarbeiten von der Gemeinde, Fotos für Prospekte und ähnliche Projekte. Eine Zeit lang hatte er es mit Werbefotografie versucht, aber dann bekam er gesundheitliche Probleme durch die Bildschirmarbeit und musste seine Ambitionen auf diesem Gebiet an den Nagel hängen.
Trotzdem lag ihm die Fotografie am meisten am Herzen. Daneben wollte er eigentlich nur einen Job, der genügend Geld abwarf. So hatte er jedenfalls argumentiert, als er ihr Angebot annahm, Thomas’ alte Werkstatt weiterzuführen.
Doch wenn man die Stunden in der Werkstatt und die Stunden in der Dunkelkammer zusammenrechnete, kam man auf weit mehr Zeit, als eine Vollbeschäftigung in Anspruch genommen hätte. Damit hatte er wahrscheinlich nicht gerechnet.
Was für Bilder er da eigentlich entwickelte, wusste Lise-Lott schon gar nicht mehr. Das war das Traurigste: Er hatte aufgehört, sie zu fotografieren. Als sie sich kennenlernten, war sie sein Lieblingsmotiv gewesen. Lise-Lott im Gegenlicht. Lise-Lott kurz nach dem Aufwachen. Lise-Lott beschwipst, mit verführerischem Schlafzimmerblick.
Das war der Preis, den sie dafür bezahlt hatten, ihre Träume zu verwirklichen und ihre Hobbys zur Arbeit zu machen: Sie mussten im Grunde ständig arbeiten. Trotzdem war es ein Glück, dass Lars mit der Werkstatt ein gesichertes Einkommen hatte und sie sie nicht gleich nach dem Tod ihres ersten Mannes verkauft hatte. Ein Glück, dass sie Lars getroffen hatte und er auch ein ganz geschickter Autobastler war.
Sie hatte wirklich Glück gehabt. Eine Witwe mittleren Alters in einem renovierungsbedürftigen Haus am Ende der Welt und als Dreingabe eine Autowerkstatt ohne Angestellte – das war ja nicht unbedingt das, wofür die Männer Schlange standen. Doch Lars hatte ihre Qualitäten erkannt. Mit seiner Kamera lockte er eine Schönheit hervor, von der nicht einmal sie etwas geahnt hatte. Er hatte sie auch überredet, ihrem alten Traum eine Chance zu geben und ein Geschäft zu eröffnen. Mit seiner positiven Einstellung wurde alles möglich.
Im Nachhinein konnte sie nicht verstehen, warum sie ihr ganzes Leben lang so viel Angst gehabt hatte. Vielleicht war es die Angst, zu versagen. In den letzten Jahren war sie ein paar Zentimeter gewachsen. Das mochte auch daran liegen, dass sie in der Ehe mit Thomas ein paar Zentimeter geschrumpft war.
Während sie das Auto heimwärts steuerte, beschloss sie, eine Veränderung in Gang zu setzen. Ab jetzt würden sie mehr Zeit miteinander verbringen. Mehr gemeinsame Abendessen bei Kerzenlicht, mehr gemeinsame Wannenbäder und romantische Wochenenden in der Pension Österlen. Sie begann Pläne zu schmieden und hätte Marianne gern davon erzählt. Aber die Freundin hatte ihre Wange an den Sicherheitsgurt geschmiegt und war auf dem Beifahrersitz eingeschlafen. Sie hatte einen roten Abdruck an der Schläfe, als sie vor den Reihenhäusern hielten und Lise-Lott ihr beim Ausladen des Gepäcks half.
»Liebe Lise-Lott, vielen Dank für diese tolle Woche, von der ich noch lange zehren werde. Wollen wir das nächstes Jahr nicht wieder machen?«
Lise-Lott winkte im Davonfahren. Sie war so fröhlich. Weihnachten stand vor der Tür, und zum ersten Mal konnte sie es kaum erwarten, sich in die Vorbereitungen zu stürzen.
7
Als sie am Morgen Lise-Lott Edells Haus betraten, mussten sie die Tür nicht aufbrechen: Ein Kellerfenster stand offen. Karlberg wunderte sich immer wieder, wie unvorsichtig die Leute waren, wenn es um ihren sauer verdienten Besitz ging. Es gab zwei Typen: Eine Minderheit, die es übertrieb und ihr Grundstück mit Mauern umgab, die höher waren als das Haus selbst, und
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