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Winterreise

Winterreise

Titel: Winterreise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Roth
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Vesuv war er dem Himmel näher gewesen als der Erde, aber hier, über der kochenden Hitze, fühlte er sich ihr ganz nahe. Er dachte an die Marktstraßen, an die üppigen Früchte, die ihn an Organe erinnert hatten und an eine wachsleinerne Tafel in der Schule, auf der das Innere eines Bergwerks, Farnkräuter und prähistorische Tiere abgebildet waren. Der Führer hatte eine Fackel aus einer »La Stampa« gedreht, sie angezündet und war mit ihr über die vom Schwefel schmutziggelbe Erde gefahren. Zischend waren riesige Rauchschwaden aus der Erde gestiegen und über sie als dunkle Schatten geflogen. Auf der anderen Seite des Vulkans tauchte das aufgegebene Osservatorio Friedlaender in der Rauchschwade auf. Am Gemäuer schimmerten Schwefelblüten, das Haus war aus Stein und bestand nur aus einem Zimmer mit vergitterten Fenstern. »Hier, auf dem dünnen Boden des Vulkans war ein Mensch gesessen und hatte beobachtet, was im Krater geschehen war«, dachte Nagl. Er hatte sorgfältig die Risse der Erde in einem Plan verzeichnet, die Temperatur gemessen, den Seismographen studiert. Aber der Boden unter dem Observatorium war immer dünner geworden, so daß man die Beobachtungsstation hatte aufgeben müssen. War es ein Zufall, daß ihm wieder sein Großvater einfiel, in seinem dunklen Zimmer, über dem Schachbrett? Es war seltsam: In allen Wirrnissen, während des Ständestaates und des Nationalsozialismus, hatte er ihn sich immer in einem verdunkelten Zimmer über dem Schachbrett vorgestellt. Er war Sozialdemokrat gewesen, doch er hatte keinen Triumph beim Zusammenbruch der Monarchie empfunden, 1934 hatte er nicht mit dem Gewehr aus dem Zinshaus auf das Militär geschossen wie sein Bruder. Er war arbeitslos geblieben und hatte von seiner Frau, die Aufräumerin in einer Bleistiftfabrik gewesen war, gelebt. Den Nationalsozialismus hatte er mit Ekel vor der Macht und mit Staunen betrachtet, da er wieder Arbeit gefunden hatte. Er schwieg, wenn er hätte antworten sollen, und zuckte mit den Schultern, wenn man ihm wegen seines Schweigens Fragen stellte. Nach dem Krieg hatte er bei den Wahlen für die Sozialdemokraten geworben, hatte Kranke mit dem Auto zur Wahlzelle fahren lassen, war bis spät in der Nacht vor dem Radio gesessen und hatte die Ergebnisse in Listen eingetragen. Dreißig Jahre später war er von der Partei vergessen gewesen, nicht einmal rote Nelken, die er am 1. Mai im Knopfloch getragen hatte, lagen auf seinem Grab. Auch seinen Namen schrieb die Sozialistische Arbeiterzeitung in der Traueranzeige falsch, als sei jemand anderer gestorben.
     
    Ein Stein fiel, vom Führer geworfen, hohl dröhnend zu Boden. Es war ein merkwürdiges Gefühl, auf der dünnen Kruste über die brodelnde Erde zu gehen. Am Ausgang pflückte der Führer duftende Myrtenzweige und Heidekraut für Anna. Das Observatorium lag von Schwefeldämpfen eingehüllt auf der bleigrauen Ebene des Kraters, die, je weiter sie sich davon entfernten, immer mehr wie die Eisfläche eines Vulkansees aussah.
24
    Im Stiegenhaus stand eine Frau, die einen Toilettenspiegel am Knauf des Geländers aufgehängt und darunter ihre Handtasche gestellt hatte. Sie hatte langes, dunkles Haar und schminkte sich, während ein junger Mann mit Schnurrbart kurz neben ihr stand, dann aber stumm davonging. Nagl hatte dem Portier gesagt, daß sie am nächsten Morgen abreisten, und als der Portier ihn gefragt hatte, wohin, hatte er Rom angegeben. Draußen regnete es in Strömen. Auf der Piazza Dante Alighieri befand sich die Trattoria mit dem großen Ventilatorflügel an der Decke. Nagl war hungrig und hatte im Hotelzimmer eine Lust zu trinken verspürt. Es war noch früh am Abend. Sie waren die einzigen Gäste im Lokal. Nagl trank rasch, aber es fing an, ihn zu stören, daß Anna nicht trank. Er fühlte sich wohl und versuchte in ihr nur das gleiche Wohlbefinden zu wecken, das er empfand; Anna warf ihm jedoch einen mißbilligenden Blick zu, von dem er wußte, daß er dem Trinken galt. Er schwieg und trank weiter. Immer stärker fühlte er, daß Anna ihn um sein Wohlgefühl und sein gutes Gewissen betrog. Beim Essen fing er einen Streit an, fragte Anna nach vergangenen Liebhabern aus und erklärte ihr, welche Fehler er in Zukunft bei Frauen nicht mehr machen würde. Er blieb so lange sitzen, bis er vor Müdigkeit beinahe einschlief. Die Trattoria hatte sich mit Gästen gefüllt, aber es war noch nicht spät. Sie gingen zum Hotel zurück. Wenn Anna ihm fortlief, sollte sie

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