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Winterreise

Winterreise

Titel: Winterreise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Roth
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Koffer über die Treppen des Bahnhofs und stiegen in eines der überfüllten Verkehrsboote. Aus dem Wasser erhoben sich Palazzi, deren Farben aus dem Meer zu kommen schienen, gelbe und orangefarbene, weinrote und lachsfarbene mit steinernen Baikonen und geschlossenen, schweren Fensterläden. Schiffe fuhren ihnen entgegen oder an ihnen vorbei oder schaukelten zwischen blaugelben und tabakbraunen und weißen Pfählen mit goldenen Kugeln über den Spitzen.
     
    Sie nahmen ein Hotelzimmer an der Rialto-Brücke, Männer in gelben Südwestern standen hochaufgerichtet in Lastenbooten, auf der Straße vor dem Kanal gingen vereinzelt Menschen mit bunten Regenschirmen. Nagl trat ins Freie und spazierte mit Anna das Wasser entlang. Alles kam ihm fremd und nicht für ihn bestimmt vor.
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    Das cremefarbene Albergo »Marconi & Milano« mit den goldenen Buchstaben hatte geschlossen. Die untere Hälfte der Fenster zum Gehsteig war mit einem Store verhängt, und Nagl schaute durch die Scheiben. Drinnen waren die Möbel mit Leinentüchern verdeckt. Je weiter sie die Straße am Kanal hinuntergingen, desto ausgestorbener erschienen die Häuser. Auch die Straßen waren leer. Er dachte daran, mit Anna in eines der ausgestorbenen Hotels einzudringen und sie auf den weißen Tüchern zu lieben. Ein schwarzes Boot fuhr im Regen über den Kanal. Am Kiel leuchtete eine goldene Weltkugel mit zwei schwingenden Flügeln und goldenen Löwen. Ein Kranz aus roten Blumen lag auf der Kabine, die mit Vorhängen verhängt war, so daß man keinen Menschen sah. Nur vorne stand ein Mann im Ölzeug und lenkte das Boot. Sie gingen durch enge Gassen zwischen Häusern, an denen die Ziegel hinter dem abgebröckelten Verputz zu sehen waren, wie eine Wunde. Auf Steinbaikonen waren Grünpflanzen in durchsichtige Nylonplanen gehüllt.
     
    Je näher sie den Fondamente Nuove kamen, desto stärker wurde der Regen. Aus den Seitenkanälen roch es nach Salz und faulen Algen, und vor ihnen ging eine alte Frau, die sich mühsam gegen den Wind stemmte. Eine Böe wehte ihren Schirm in einen Kanal, und er versank langsam mit dem Griff nach oben im Wasser, während sich die Frau wütend und verzweifelt über die Steinbrüstung lehnte. Anna flüchtete in eine Kirche, und Nagl folgte ihr. Der weiße Marmor im Inneren der Kirche war mit pflanzen- und blumenhaften Intarsien verziert, als schimmerten Schatten von außen wachsender Blumen durch. Vielleicht war das Sterben tatsächlich eine rasende Rückschau auf Bilder des Lebens und ein Sich-Erheben über die Erde, dachte Nagl. Vielleicht war das, was er seit dem Augenblick, als er dem Gendarmen den Rücken zugekehrt hatte, erlebt hatte, der Moment des Sterbens gewesen, ein Sterben, in dem er sah, was hätte sein können, ein Widerstreit der Kräfte, die noch in ihm waren, und dem Verlöschen des Bewußtseins. Er stand in dieser Kirche und dachte an das Votivbild, das er in Stübing gesehen hatte, die blaue Wolke, in der Maria geschwebt hatte. Die Religion war leichter zu verstehen als das Leben. Er fand es seltsam, daß der Glaube das Problem für die Menschen war und nicht das Leben. Die Religion kam ihm wie ein Schutz vor dem Wahnsinn vor, alles war bunt und leuchtete und hatte seine Bestimmung. Er konnte sich vorstellen, daß er gestorben war und daß das Sterben so lange dauerte. Sein nacktes, kämpfendes Leben verlachte den Glauben. Es brauchte seinen Verstand, um zu überleben, und dieser Verstand verspottete alles in ihm, was Trost suchte. Aber im Zustand eines langen Sterbens, wenn er das Leben als ein Sterben begriff, schien ihm die Religion etwas ganz Einfaches und Selbstverständliches zu sein.
    Er sah sich nach Anna um, die ein nasses Kätzchen im Arm hielt und streichelte. Neben der Kirche stand ein verfallenes Haus, mit Fenstern ohne Scheiben, davor waren Katzen herumgelaufen und durch die Fenster in das Haus gesprungen, als sie gekommen waren. Eine war im Regen hocken geblieben, Anna mußte sie aufgehoben und in die Kirche mitgenommen haben. Das Kätzchen lugte über den Ärmel und miaute.
     
    Seit er mit dem Zug weggefahren war, war etwas geschehen, das er zwar erlebte, das ihm aber nicht bewußt geworden war: Er sah dauernd sich selbst. Manchmal sah er sich von oben, er sah sich laufen, gehen, stehen, er sah sich Anna umarmen, oder es war ihm, als könnte er sich aus nächster Nähe beobachten. Es störte ihn nicht. Er sah Speichel aus seinem Mund rinnen und er sah sich am Rand des Vesuv stehen und in den Krater

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