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Winterreise

Winterreise

Titel: Winterreise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Roth
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blicken … Und noch etwas war ihm aufgefallen: Das Gefühl, etwas schon erlebt zu haben, die Überzeugung, das Wissen darum, war zum ersten Mal in Neapel in der Hafenstraße aufgetaucht. Aber es hatte sich immer wieder eingestellt, und er hatte es immer wieder zur Seite geschoben, wie um sich zu schützen. Mit den Schulkindern war er zu verschiedenen religiösen Anlässen in die Kirche gegangen: Zum Erntedankfest, zur ersten Kommunion – zu der die Mädchen in weißen Kleidchen und die Knaben in dunklen Röcken mit Kerzen in der Hand gekommen waren –, zur Christmette, wenn die Kinder in der Kirche knieten und für ihn plötzlich, durch die Anwesenheit ihrer Eltern, fremde Menschen wurden, und zu Ostern, wenn alles grün wurde und die Kinder Palmkätzchen und blühende Zweige in die Kirche brachten. Das alles sah er jetzt ganz schnell, als sei es hintereinander gewesen. Und wie er am Vesuv Sehnsucht nach Menschen gehabt hatte, empfand er jetzt Sehnsucht nach der Schule. Die Kinder waren scheu und ängstlich gewesen, es hatte keinen Übergang, kein langsames Gewinnen des Vertrauens gegeben, es war unvermittelt geschehen, daß die Kinder vor seinem Haus aufgetaucht waren, um auf ein Stück Schokolade zu warten, und es hatte genügt, wenn er vorgegeben hatte, keine Zeit zu haben, daß die Kinder für Tage verschwunden geblieben waren.
    Sie traten wieder ins Freie. Das durchschimmernde Grün im Inneren der Kirche hatte etwas Geheimnisvolles und Anregendes gehabt, aber hier, auf der Straße wehte ein kalter Wind, und der Regen fiel in Strömen. Anna trug das Kätzchen unter ihrem Mantel, nur sein Kopf schaute heraus. Das Kätzchen war ganz ruhig und ließ geschehen, daß man es mit sich forttrug, es genoß die Wärme und die Zärtlichkeit. Anna drückte es an ihr Gesicht und achtete darauf, daß es sich unter dem Schirm befand und nicht naß wurde.
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    Das Meer verlor sich im Nebel. Nagl sah die Pfähle, auf denen eiserne Laternen vor Sandbänken warnten, und weiter draußen die Backsteinmauern und die sie überragenden Zypressen von San Michele. Als sie an der Anlegestelle vor dem Friedhof hielten, fiel Nagl auf, wie das Wasser neben dem Vaporetto durch den Motor milchig wurde. Vor dem Eingang schaukelte das schwarze Boot, das sie am Canale Grande gesehen hatten. An den Seiten des Bootes waren aus Holz geschnitzte goldene, geraffte Borten und Quasten zur Verzierung angebracht. Annas Kätzchen hielt still. Das Meer schwabbte über die Steinstufen, und das Boot schaukelte. Der Steuermann kam, stieg in das Boot und fuhr in einer schäumenden Kurve davon, aber im gleichen Augenblick legte ein anderes Boot an, ein Matrose bückte sich, auf seinem Rücken wurde ein Sarg gedreht, dann auf ein Metallwägelchen verladen und mit Blumen und Kränzen zugedeckt. Aus einem gelben Vaporetto mit rotweißen Rettungsringen stiegen zwei Kinder.
     
    Sie gingen durch das dunkle Tor des Friedhofs. Auf die Steinplatten waren in der Hast abgerissene rote Blütenblätter, Lorbeerzweige, mit Draht auf Holz gebundene rote und rosagesprenkelte Nelken gefallen, wie der Großvater sie aus Papier am 1. Mai am Rockaufschlag getragen hatte. Nagl hatte als Kind nicht verstanden, weshalb der Großvater rote Papiernelken getragen hatte. Die Großmutter hatte ganze Sträußchen auf dem Küchentisch liegen gehabt, sie verschwanden am nächsten Tag in einer Lade der Kredenz, wo die Ansichtskarten und spärlichen Briefe hingelegt wurden. Er sah die kleine Küche der Fabrikwohnung vor sich, die vergilbte Kredenz, den schwarzen Volksempfänger auf einem Brett an der Wand, die Küchenbank, in die man die Schmutzwäsche stopfte. Die Großmutter strich ihm lachend über sein Haar. Sie war eine gutmütige, korpulente Frau, die ihm bei jedem Besuch ein Zwei-Schilling-Stück aus Aluminium in die Hand drückte. Wenn er sich recht erinnerte, war sie der erste Mensch gewesen, den er gekannt hatte und der gestorben war. Er hatte ein Gemisch von Wichtigkeit und Ungläubigkeit empfunden, als er davon erfahren hatte. Das Schreckliche war das Entsetzen der Mutter und des Großvaters gewesen. Er hatte ihre Machtlosigkeit gesehen und auf die Religion übertragen. Und die Vorstellung von einem Leben nach dem Tode war angesichts der Verzweiflung der Mutter und des Großvaters mit einem Mal zerfallen. Nagl hob die Nelken auf und folgte dem Begräbnis. Eine Frau sprach ihn an. Nagl verstand so viel, daß sie ihn fragte, woher er den Toten gekannt habe. Der Bestattungsbeamte

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