Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Winterreise

Winterreise

Titel: Winterreise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Roth
Vom Netzwerk:
Mund. Als die Männer, die sie getragen hatten, sie fallen ließen, breitete sich eine Lache Blut vor ihrem Mund aus. Einer der jungen Männer sprach sie an, Nagl verstand ihn nicht, aber schließlich begriff er, daß er sich verstecken wollte. Sie nahmen den Lift zur Pension. Von dort blickten sie auf die Straße: Das Mädchen lag in einer großen Blutlache, und ein Polizeibeamter und ein Sanitäter knieten neben ihr. Das Auto brannte, vereinzelte Menschen liefen über die Fahrbahn, warfen Pflastersteine und wurden mit Gummiknüppeln niedergeprügelt. Sie sahen von oben klein aus und als hätten sie keine Angst. Langsam zogen sie sich, verfolgt von der Polizei, zurück. Die junge Frau lag noch immer vor dem Haus. Die Blutlache war schwarz, ihre Arme waren merkwürdig abgewin kelt. Ein Polizist deckte sie jetzt mit Packpapier, das er mit Pflastersteinen beschwerte, zu. Nagl hatte einmal einen Mann auf der Straße sterben gesehen. Er war von einem Auto angefahren worden, ein Stück durch die Luft geflogen und mit gebrochenem Genick liegen geblieben. Er war etwa sechzig Jahre alt gewesen, ein glatzköpfiger Mann mit einer Brille. Die Brille war zerbrochen auf dem Gehsteig gelegen, sein Kopf war klein und blutig von ihm weg gehangen, wie der Kopf eines toten Huhnes, und schwarzes Blut hatte sich um ihn ausgebreitet.
    Der Mann im Zimmer war groß und dunkelhaarig, sein Gesicht war blaß, und er schwitzte. Er sprach gebrochen Deutsch. Nagl sah mit ihm zu dem toten Mädchen hinunter. Aus dem Auto quoll Rauch, die Fahrbahn war mit Pflastersteinen übersät und der Mann schaute, was sie mit dem Mädchen machten. »Sie ist plötzlich auf der Straße gelegen«, sagte er. Gleich darauf fiel ihm ein, daß er sich in einem fremden Zimmer befand, und er gab Nagl und Anna die Hand. Er sagte, daß er Zoologie und Botanik studiere, aber es klang, als bedeute es ihm nichts.
41
    Nagl schaute noch immer zwischen den Vorhängen auf das mit Papier zugedeckte tote Mädchen: Er erinnerte sich an die Frau, die am Vormittag auf der Straße geschrieen hatte, und an die Vögel, die über die Dächer geflogen waren.
    Amerika war der Traum des Großvaters gewesen, die Flucht aus der Selbstzerstörung, aus der Sinnlosigkeit, sich nur von einem Tag auf den anderen über Wasser halten zu können. Amerika war der vermeintliche Friede gewesen. Er hatte sich ein Bild von einem neuen Leben in Amerika gemacht, an das er immer gedacht hatte: Die Sonne stand auf einem riesigen Himmel, unter dem er klein dahinging. Diesem Bild reiste er nach. In Amerika würde es gute Arbeit geben. Er dachte nicht daran, reich zu werden, aber vor lauter Arbeit hatte er nichts mehr wahrgenommen. Er hatte gearbeitet, gegessen, geschlafen, manchmal, an Sonntagvormittagen, hatte er getanzt. Vielleicht dachte Nagl wegen der Amerika-Reise so sehr an den Großvater. Plötzlich war er aufgebrochen. Er hatte alles verkauft, was er besessen hatte, um mit der Eisenbahn nach Bremerhaven zu fahren. Da waren wieder die Schiffe gewesen und die fremden Menschen wie am Bosporus. Er hatte kein Geld in der Tasche gehabt. In einem Rucksack hatte er Tabak, ein Hemd, Unterhosen, einen Kamm, ein Taschenmesser und eine Fotografie, die ihn mit einem Walzbruder zeigte: Der Großvater saß da, glattrasiert mit fleischigem Gesicht und einer Kappe, eine Blume im Knopfloch, der andere trug einen dunklen Schlapphut und hatte eine Kette aus silbernen Münzen um den Bauch. Bei Nacht hatte er sich im Kohlenbunker der »Martha Blumenfeld« versteckt, die nach Amerika auslief. Er lag in der stickigen Schwärze und wartete. Er mußte darauf achten, rechtzeitig aus dem Bunker zu kommen, um bei Seegang nicht von den Kohlen verschüttet zu werden. Klein lag er zwischen den Kohlenhalden. Aber die »Martha Blumenfeld« lief nach Cardiff aus, und in der Prärie ging die Sonne unter, ohne daß der Großvater sie jemals gesehen hatte.
     
    In der Nacht träumte Nagl, daß er als Kind auf das Meer hinausschwamm. Das Meer war weit und endlos. Er spürte, wie ihm kalt wurde, aber er schwamm auf ein großes Schiff zu. Je näher er kam, desto unheimlicher wurde es ihm. Das Schiff lag tief im Meer. Unter der Wasseroberfläche war es von Algen grün und über dem Wasser hob es sich so mächtig zum Himmel, daß ihn schauderte. Anna erwachte, drehte das Licht an, und Nagl sah sie mit blinzelnden Augen über dem Bidet hocken und pissen. Sie saß im schmutziggelben Licht mit ihrem weißen Körper, dem dunklen Schamhaar, ihren

Weitere Kostenlose Bücher