Winterreise
plötzlich sein Gesicht, kniff in seine Wange und summte heiter vor sich hin. Er fühlte, daß seine Höflichkeit sie unsicher machte, und blieb dabei. Im Hotel umarmte sie ihn, kaum daß sie die Tür hinter sich geschlossen hatten, aber Nagl war müde und fühlte diese Müdigkeit wie eine Bestärkung. Sie drängte sich an ihn, aber er schlief ein.
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In der großen, gläsernen Bahnhofshalle erst hatte Nagl am frühen Morgen beschlossen, nach Florenz zu reisen. Während sie im Zug dahinfuhren, wußte er noch immer nicht, wo sie aussteigen würden. In Florenz? In Bologna? Würden sie nach Mailand umsteigen? Oder nach Venedig fahren? Er blickte aus dem Fenster: Unter den schweren Regenwolken lagen gelbe Felder, rundherum leuchteten die verschiedenen Grünfarben: grasgrün, das Grün der Zypressen, das türkisfarbene Grün von Sträuchern, das Grün der Pinien, das Grün der Olivenhaine, und auf den Feldern stand das Regenwasser und reflektierte das Grün des Himmels. Hinter einem Zypressenwäldchen schimmerten Bäume in weißen Blüten. Wo die Hügel etwas höher waren, waren sie von Nebelschwaden bedeckt und sahen traurig aus. Er fuhr dahin und dachte an den Großvater. Zwei Tage war sein Großvater in Cardiff ohne Geld herumgestreunt und hatte nicht geschlafen, aus Angst vor der Polizei. In den Heuerbüros war er abgewiesen worden, er hatte keinen Ausweis, keinen Paß, keine Nachweise. Schließlich legte er sein Arbeitsbuch vor, mit den Stempeln der Glasfabriken Dresden, Prag, Brünn und Berlin. Aber das wären seltsame Schiffsnamen, fanden die Beamten in den Büros. Da stand Fürstenwalde, Gloggnitz, da standen Namen von Herbergen Mürzzuschlag und Bruck. Sie schauten in den Verzeichnissen nach. Kein Schiff in ihren Büchern hieß so. Die Beamten überlegten. Schließlich verlangten sie Geld von ihm. Nein, Geld hatte er keines. Sie klappten das Registerbuch zu und sagten ihm, er solle wiederkommen, wenn er Geld hätte. Er kam am nächsten Tag wieder. Sie gaben ihm eine Heuer auf einem deutschen Schiff als Trimmer. Er mußte die Kohlen dem Heizer zuschaufeln. Das Schiff hieß »Anni«. Es fuhr nach Nordafrika, nach Algier, Tunis und Temnis. Im Schiff war es heiß und dunkel, aber an Deck wehte ein kalter Wind, und die Erde war rundherum blau und unendlich weit. Er ging an Deck und hatte das Gefühl, auf einer blauen, flüssigen Kugel zu schwimmen. Wenn er an Land kam, war er in wenigen Stunden die Heuer los. Er fuhr nach Sizilien, mit Holz und Kohle an Bord, zurück mit Schwefel oder Orangen aus Gibraltar oder La Valetta. Sie fuhren nach Lissabon und Cartagena, Barcelona und Valencia. Er war jetzt Heizer, und das Schiff war an eine norwegische Reederei verkauft worden und hieß »Skagerrak«. Er wollte den Bosporus sehen, aber was er sah, waren Städte, die sich wie ein farbiger Schleier vor seine Augen legten, oder das blaue, weite Meer, wenn er an Deck kam. Manchmal stellte er sich vor, in welcher Richtung Amerika lag. Dann vergaß er es. Er schaufelte Kohlen in die Kessel. Er wußte nicht, was mit ihm geschah. Wollte er es so? Geschah es mit ihm? Er hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Niemand fragte ihn. Er fragte sich selbst nicht. Als er wieder nach Österreich kam, trat er der Sozialdemokratischen Partei bei. Er sagte, alles sei sinnlos gewesen für einen einzelnen Menschen. Daß er nicht Nichts gewesen sei, habe er nur selbst gewußt. Jeder habe es nur von sich selbst gewußt, daß er nicht Nichts gewesen sei.
Nagls Blick fiel auf einen Mitreisenden, dessen Gesicht fortwährend von Zuckungen überlaufen wurde. Es war ein großer, gutgekleideter Mann mit einem Bärtchen und dunklen Augen, der in einem Buch las. Er bewegte stumm seinen Mund, räusperte sich, hüstelte, zuckte mit den Schultern und krachte mit den Fingergelenken, indem er die Finger einzeln hinter das Ohr drückte. Daraufhin zupfte er seinen Bart, schnappte wie ein Fisch nach Luft, legte das Buch zur Seite und las eine Zeitung, legte die Zeitung zur Seite und las das Buch. Zwischendurch schlief er. In Florenz stieg der Mann aus, aber Nagl blieb sitzen. Die Bäume waren kahl, und die Häuser der Stadt verschwanden schattenhaft im gelben Nebel. Draußen war Winter. Sie waren jetzt allein im Abteil, und Nagl legte seinen Kopf in Annas Schoß und sah aus dem fahrenden Zug.
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Nach dem Bahnhof von Mestre fuhr die Eisenbahn auf das Meer hinaus. Möwen saßen auf Holzpfählen oder kreischten vor Venedig über dem Wasser. Sie trugen die
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