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Winterreise

Winterreise

Titel: Winterreise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Roth
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trug die Kränze voran, und Nagl nickte nur mit dem Kopf. Es waren sechs oder sieben Angehörige in grauen Anzügen und gemusterten Regenmänteln, die ihn erstaunt betrachteten. Auch daß Anna ein Kätzchen trug, verwunderte sie. Sie folgten dem Sarg nicht weiter, sondern hielten vor einer Kammer, in der Fotografien Verstorbener aus Grabsteinen herausgehauen lagen. Nagl bückte sich und sah die verblaßten Abbildungen von Menschen, die einmal gelebt hatten. Sie blickten ihn aus festgehaltenen Augenblicken an, in denen sie vor der Linse eines Fotografen gestanden waren und die vermeintliche Unendlichkeit des eigenen Lebens zu spüren geglaubt hatten. Alle Menschen erschienen Nagl jetzt ahnungslos. Durch ein Tor sah er in einen dichtbewachsenen, von Pinien, Palmen und Lorbeerbäumen überwucherten Teil des Friedhofs. An den Baumstämmen rankten sich Efeublätter hoch, Amseln sprangen auf den Kieswegen und zwitscherten in den Bäumen. In einer Steinhalle standen Grabsteine, schmiedeeiserne Lampen und marmorne Engel. Da standen sie wieder mit ihren faltigen Kleidern, den mächtigen, schönen Flügeln, den abwesenden Gesichtern. Der Raum war weiß, und das Kätzchen war aus Annas Mantel gesprungen und streifte zwischen den Figuren herum. Sie suchten das Begräbnis und fanden es auf einer von Kreuzen übersäten Wiese, durch die Alleen führten. Auf dem Weg zum Ausgang sahen sie plötzlich durch ein schmiedeeisernes Tor das Meer und die Ziegelmauer der Fondamente Nuove. Sie gingen jetzt schneller, verirrten sich abermals in Gassen aus Marmor, in denen übereinandergeschachtelte Gräber mit Blumen und Fotografien der Toten lagen. Etwas in der Brust würgte Nagl und ließ ihn schwer atmen. Er sprach einen alten Mann mit Brille, Baskenmütze und einer Aktenmappe an. Der Mann hatte eine heisere Stimme, drehte sich im Regen um, gebückt, die Aktenmappe verrutschte unter seinem Arm und er verschwand.
     
    Anna hielt das Kätzchen und kraulte es. Die Motorboote tuckerten auf dem Meer. Im Wartehäuschen, das im Wasser schwankte, drängten sich Menschen. Zwei alte Frauen mit blauen Strümpfen und ondulierten Haaren hockten auf einer Bank und rauchten. Überfüllte Vaporettos fuhren vorbei, endlich konnte sich Nagl in ein anhaltendes drängen und Anna mit sich ziehen.
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    Sie hatten das Kätzchen vor die Kirche zurückgetragen. Eine samtgraue, weißgefleckte Katze war flach auf dem Boden gelegen und hatte gekotzt. Über dem Fenster, im nächsten Stock hatten Kanarienvögel gezwitschert, und als Nagl an Neapel gedacht hatte, an den Markt mit den Früchten, dem Fleisch und den Tieren, dem Gemüse, den Menschen und Blumen, hatte er plötzlich das Gefühl gehabt, daß alles seine Richtigkeit hatte. Auf der Straße versuchte einer der Hunde, eine Katze zu besteigen. Die Katze ließ es geschehen, aber Kinder verjagten den Hund, und die Katze kotzte weiter. Anna kniete sich vor sie hin. Nach einer Weile sagte sie, daß er gefühllos sei. Nagl schwieg. Es kam ihm vor, als seien seine Empfindungen anders.
     
    Die Kinder waren das einzige, was seinen Alltag abwechslungsreich machte, aber ihre von Generation zu Generation gleiche Unbeholfenheit, Angst und Bereitschaft zum Gehorsam hatten ihn ratlos werden lassen. Er sprach häufig mit anderen Lehrern darüber und war erstaunt, daß diese das unverändert gleiche Verhalten der Kinder natürlich fanden und höchstens Witze machten, die alles verharmlosten. Es waren keine schlechten Lehrer. Einige mochte er sehr, aber auch sie schienen, was sie erlebten, als selbstverständlich hinzunehmen. Ihm fehlte etwas. Immer hatte er das Gefühl, daß etwas fehlte. Es machte ihn unzufrieden und, da er es mit niemanden besprechen konnte, einsam. Auch er sprach nicht mehr darüber. Er sagte nichts. Aber er betrachtete schon lange seine Arbeit als etwas Vorläufiges, so als würde er in absehbarer Zeit etwas anderes machen. Das half ihm, aber andererseits verlief sein Leben Tag für Tag so, und nichts geschah.
     
    »Du bist ein kalter Mensch«, sagte Anna und lief davon. Das Wasser des Kanals war grün, zwei Männer fuhren in einem Boot vorbei, das sie stehend ruderten. Daß durch das Wasser alles fremd wurde, ließ ihn ruhig bleiben. Er ging zurück in das Hotel. In Auslagenscheiben spiegelten sich der Canale Grande, die vorbeifahrenden Boote, die Möwen, die auf den rot-weiß gestreiften Pfählen hockten, und die blaßblauen Anlegehäuschen für die Vaporetti mit den vielen Glasfensterchen, die hölzernen

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