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Winterreise

Winterreise

Titel: Winterreise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Roth
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Mädchenbrüsten und den schönen langen Haaren auf dem Bidet aus Porzellan, und er hörte das Pißgeräusch. Später träumte er wirr, und am Morgen, erleichtert über das Tageslicht, umarmte er Anna, die sich an ihn gedrängt und deren warmen, weichen Körper er schon einige Zeit gespürt hatte. Sie sprachen nichts, sondern drückten und streichelten sich nur.
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    Die Via Cavour war freigeräumt von Pflastersteinen, Flugzetteln und Transparenten. Dort, wo das tote Mädchen gelegen war, sah er Sägemehl. Das ausgebrannte Autowrack war an den Rand gezogen worden, auf dem Asphalt befand sich jedoch ein großer schwarzer Fleck. Er hörte Glocken läuten, es war Sonntag. Vor dem Petersdom flanierten Matrosen, Polizisten und Militärs. In der Kirche war Ruhe, als sei nichts geschehen. Sie blickten in eine Seitenkapelle, da saßen glatzköpfige Priester in weißen und schwarzen Spitzengewändern und sangen weitabgewandt. – Ein Greis kam auf sie zu mit einem tappenden Stock und einem Hut in der Hand. Er preßte die Hand mit dem Hut und dem Stock an sich und hielt Nagl die andere geöffnet hin. Er sah sie nicht an, war nur stehengeblieben, ohne sich zu rühren, ohne zu sprechen. Nagl gab ihm Geld, der Greis blickte ihm in die Augen und ging tappend davon. Nagl dachte an den brausenden Zug, den Schlafwagen und dem Mann im Abteil. Es war ihm, als folgte er ihm die ganze Reise über. Erst draußen im Freien konnte er an etwas anderes denken. Die Heiligenstatuen auf den Zinnen interessierten ihn nicht mehr. Die Nonnen und Priester störten ihn. Sie schienen ihm alles nur zu verdecken. Ein starker Wind wehte und es war kalt. Aus einem Fenster des Seitentraktes, weit weg von den Menschen, erschien der Papst. Eine dunkelrote Fahne wehte unter dem Fenster, wurde vom Wind herumgezerrt und verwickelte sich in den Fensterläden. Der Papst sprach im klagenden Ton eines greisen, traurigen Mannes. Er hatte in seinem weißen Gewand und dem weißen Käppchen die Arme weit ausgebreitet und segnete die Menschen unter ihm, dann verschwand er langsam und schwerfällig in seinem Zimmer, und ein Priester zerrte lange an der Fahne, bis er sie hinter das Fenster ziehen konnte.
    In einem kalten, hellerleuchteten Restaurant, das aussah wie ein Eissalon, schnitt eine junge Frau aus Teigblättern Nudeln. Sie sahen der Frau zu und warteten, bis sie bedient wurden. Die Frau walkte Teigblätter so groß wie ein Tischtuch, schüttete Mehl darüber und walkte weiter. Das Personal aß stumm und ernst am Nebentisch. Auf einer langen Tafel sah Nagl die Fleisch-, Fisch- und Gemüsegerichte. Wein wurde ihnen serviert, und Nagl trank so hastig, daß er beim Einschenken daneben schüttete. Der Fleck auf dem Tischtuch kam ihm jedoch schön vor, er war blaßrot, wie ein roter Tintenfleck in einem Schulheft. Je mehr Nagl trank, desto schwermütiger wurde er. Er dachte an die Abreise und begann vom Abschied zu sprechen. Anna weinte plötzlich. Tränen liefen über ihre Wangen, sie war still und verzog ihr Gesicht nicht. Sie hatte, statt Wein zu trinken, Eis bestellt und weigerte sich nun, es weiter zu essen. Nagl nahm das Eis, aß es, und Anna hielt eine Hand vor ihr Gesicht. Er wurde auf einmal wütend und machte abfällige Bemerkungen, aber sie weinte weiter, bis er verstummte. Der Kellner kam und stellte einen Teller Spaghetti auf den Tisch. Der Kellner tat, als bemerkte er nichts, aber sie saßen direkt an der Wand vor einem Spiegel, in dem sie von allen gesehen werden konnten. Ein Kind lachte am Nebentisch so laut, daß die Gäste an den anderen Tischen mitlachten. Es ging auf die Toilette und man hörte es dort weiterlachen. Als es zurückkam, drehte es eine Flasche um und deckte den Limonadenfleck mit einem Berg von Servietten zu. Sie tranken still, und Anna lachte über das Kind, dann war sie wieder ernst. Auch das Kind war immer sofort ernst, nachdem es laut gelacht hatte. Die Gäste schauten jetzt offen zu ihnen, Nagl wollte mit Anna sprechen, aber sie drohte ihm weiterzuweinen, wenn er nicht aufhörte, auf sie einzureden. Sie sagte, sie könne nicht anders als weinen, wenn er wieder davon zu reden anfinge. Nagl schwieg und war froh, daß ihn niemand mehr anstaunte. Das Kind deutete mit einem ausgestreckten Zeigefinger auf Anna, und Anna lachte. Nagl blieb ernst. Durch ihr Lachen fühlte er sich auf einmal gekränkt. Es war nichts Besonderes vorgefallen, im Grunde war nichts geschehen, aber Nagl fühlte sich ins Unrecht gesetzt. Anna streichelte

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