Winterreise
Er wußte, daß Anna im Zimmer liegen würde. Und doch stieg er die Treppen mit einer merkwürdigen Bewegung hinauf. Er kaufte eine Flasche Wein und scherzte mit dem Kellner. Er sagte, daß er die Signora überraschen wolle, und ließ sich zwei Gläser geben.
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Er öffnete die Balkontüren, so daß er einen Blick auf den Kanal werfen konnte, legte sich mit dem Rücken zu Anna in das Bett und trank.
Eine Weile lagen sie nebeneinander, und er wußte, daß sie ihren Arm auf die Stirne gelegt haben würde und zur Decke starrte. Sie empfand wahrscheinlich dasselbe wie er. Immer stellte sich bei ihm, wenn er mit Anna gestritten hatte oder sich gekränkt fühlte, ein Bedürfnis nach Zärtlichkeit ein. Er wünschte sich, aus seiner angenehmen Traurigkeit erlöst zu werden. Er würde zuerst einen Widerstand entgegensetzen, eine wütende Geste machen, aber was er wollte, war gerade, daß sie ihm weiter Zärtlichkeit schenkte, bis er sich selbst zu bezichtigen anfangen und spüren würde, wie sehr sie ihn liebte; und auch er würde wollen, daß sie fühlte, wie sehr er sie liebte. Plötzlich kam Anna nackt unter seine Decke. An der Kastentür war ein Spiegel befestigt. Sie lagen seitlich zum Spiegel, und Nagl konnte ihren Körper sehen, wie er sich an ihn schmiegte, wie er sich an seinen Schwanz drängte, er konnte ihr Gesäß sehen, das fest zusammengepreßt war. Ihre Blicke trafen sich im Spiegel. In Neapel hatte er eine Zigarre gekauft, mit einer schönen, bemalten Hülse, er holte sie aus dem Koffer, ließ Anna vor dem Spiegel knien, steckte ihr die Zigarrenhülle in den Hintern und Anna sah zwischen den gespreizten Beinen in den Spiegel und stöhnte.
Als er ein Jahrmarktsfest besucht hatte, war er in das Varietezelt gegangen. Betrunkene auf Holzbänken hatten gegrölt und den Mädchen, die sich auf der Bühne entkleidet hatten, Aufmunterungen zugerufen. Während er sich auf die Bettkante setzte und Anna auf den Schoß nahm, erzählte er ihr, wie eine blonde Frau einem Mann mit einem Gamsbarthut die Lederhose aufgeknöpft und einen Gummipenis herausgezogen hatte. Er war weiß und lang gewesen, und die Frau hatte ihn in den Mund gesteckt. Der Mann hatte in das Publikum gelacht, während die Frau an seinem Gummipenis gesaugt und geleckt hatte. Dann hatte sie sich hingekniet und vorgegeben, den Gummipenis in sich zu stecken, und hatte dabei ihr Becken bewegt. Es war armselig und geil gewesen. Die Frau war nackt gewesen, hatte ihre Schenkel gespreizt, die Brüste waren über den Ausschnitt gehangen und der Mann mit der Lederhose hatte sich zwischen ihre Beine gelegt. Unter dem Gelächter des Publikums hatte er ihre Beine in die Luft gespreizt und so getan, als ob er sie fickte, dann hatten sie sich auf einen Klappsessel gesetzt, und Nagl hatte gesehen, wie der Mann den Gummipenis nun wirklich in sie gesteckt hatte. Es war still im Publikum geworden, und nach einigen Augenblicken hatte die Frau ihn herausgezogen und sich die Milch, die in ihm war, in den Mund gespritzt. Die Milch war ihr über das Kinn getropft, und die Frau hatte gelacht, und jetzt war auch das Publikum in Gelächter ausgebrochen. Es waren Bauern in Steireranzügen gewesen, mit rotwangigen, verhärmten Frauen, betrunkene Arbeiter und Jugendliche von vierzehn und fünfzehn Jahren, die mit roten Köpfen dagesessen waren. Es war gegen Mittag gewesen, und die Vorstellung hatte eine halbe Stunde gedauert. Flachbusige Mädchen waren zu einer Musik über zerschlissene Schleier gestolpert, dicke Frauen mit zu kleinen Perücken hatten mit den Busen geschaukelt, sich vorgebeugt und die Hinterbacken auseinandergezogen, während Zuschauer Bier auf die Bühne gespritzt hatten. Nagl konnte nicht sagen, daß es ihn abgestoßen hatte. Auf eine eigentümliche Weise war das, was er gesehen hatte, wahr und vor allem ihm nicht fremd gewesen. Eine Vermischung von Traum und Leben war es gewesen, die in ihrer Armseligkeit auch ergreifend gewesen war. Er hatte in der Nacht darauf mit der Frau des Gendarmen geschlafen und dabei an das Variete gedacht und war erstaunt gewesen, wie sehr ihn der Gedanke daran in Erregung versetzt hatte.
Nagls Blick fiel auf den Kanal, und er hatte den Wunsch, sich alles zu merken. Er sah sich im Spiegel zwischen Annas Beinen, die sich um seinen Rücken geschlungen hatten und spürte, wie ein wollüstiges Gefühl ihn benommen machte.
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Anna lag in der Badewanne, und Nagl trank Wein. Der Großvater war selten zum Grab seiner Frau gegangen.
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