Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)
huschte. Fast dauerte ihn der Mann. Auch seine Gefährten taten ihm leid, nun, da sich Zufälle und Entscheidungen zu einem Muster verwoben, das für sie alle den Tod bedeuten konnte. Neue Geräusche durchdrangen Wind und Regenschauer: Trommeln und Schreie von der anderen Seite des Flusses.
»Das sind die Füchse«, sagte Yvane. »Es beginnt.«
Orisian wechselte einen flüchtigen Blick mit der Na’kyrim .
»Dann wird es Zeit, dass wir verschwinden«, erwiderte er.
Er sah Rothe fragend an und glaubte, in seinen Augen die Antwort zu erkennen, auf die er gewartet hatte. Orisian bewegte sich zuerst, sein Schildmann einen Lidschlag später. Tomas und seine Leute starrten Yvane an. Verwirrung und Besorgnis überlagerten ihre Angriffslust. Sie handelten nicht schnell genug.
Orisian befand sich innerhalb des Schwertbogens, bevor Tomas begriff, was geschah, und umklammerte den Rumpf des Obersten Wächters. Mit lautem Klatschen fielen sie in den Schlamm. Orisian sah nur aus dem Augenwinkel, dass Rothe Ame gepackt hatte. Seine ganze Welt hatte sich zu einem Mahlstrom aus Schlamm, Wasser und um sich schlagenden Gliedmaßen verengt. Aus einer kühlen, fernen Ecke seines Verstands kam die Botschaft, dass er hier sterben würde, aber sein Körper fieberte nach Leben, und er schlug, biss und kratzte wie ein wildes Tier auf Tomas ein.
Der Oberste Wächter war im Begriff, sich wieder hochzustemmen, aber seine Hand glitschte in dem Morast weg. Orisian warf sich mit seinem ganzen Gewicht auf den Schwertarm des Gegners, hielt ihn am Boden fest und krallte nach seiner Kehle. Im nächsten Augenblick durchzuckte ein heftiger Stich seine Flanke, als ein Knüppel quer über der kaum verheilten Messerwunde landete. Seine Finger krampften sich um den Hals des Obersten Wächters. Er hörte einen erstickten Schrei.
Dann rollte Orisian zur Seite. Er stützte sich auf ein Knie und kämpfte gegen den Schmerz, den Schlamm und das Gewicht des Regens an. Ein Schlagstock sauste ihm so nahe am Gesicht vorbei, dass er den Luftzug spürte. Mit einem zornigen Schrei warf sich Anyara auf den Angreifer. Der Mann schlitterte zur Seite, aber nicht rasch genug. Orisian kroch zu Tomas zurück. Der Oberste Wächter wand sich im Morast, beide Hände gegen den Hals gepresst. Orisian nahm ihm das Schwert ab, vergaß alles, was er je bei Rothe gelernt hatte, und hieb blindlings auf den Wächter mit dem Schlagstock ein. Die Klinge traf ein Kniegelenk. Im Fallen riss der Mann Anyara mit. Orisian richtete sich mühsam auf, tropfnass, das Schwert durch den Schlamm schleifend. Er rang nach Luft und hielt nach Rothe Ausschau. Ames gebrochene Augen starrten ihm entgegen. Der Zweite Wächter lag mit gebrochenem Genick auf der Seite, neben ihm der verbeulte Helm, der sich allmählich mit Regenwasser füllte.
Rothe fauchte wie ein blutgieriges Raubtier. Die beiden Wächter, auf die er zurannte, sahen einander beunruhigt an und wichen dann zurück.
»Lannis! Lannis!«, brüllte Rothe ihnen entgegen und reckte die Faust in den peitschenden Regen. Die Männer wandten sich um und flohen.
Orisian hob das Schwert mit beiden Händen. Der letzte von Tomas’ Leuten hatte Anyara abgeschüttelt; sie lag hilflos auf der Straße, während er sich hochrappelte und schwer auf seinen Stock stützte.
»Verschwinde!«, schrie Orisian und holte mit dem Schwert aus. Rothe kam ebenfalls näher. Er schwankte wie ein Betrunkener, brüllte aber immer noch den Schlachtruf des Hauses Lannis. Der Wächter zögerte, sah, dass er allein war, und humpelte davon.
Rothe half Anyara auf die Beine. Er benutzte nur den rechten Arm; der linke hing schlaff herab.
»Bist du verletzt?«, rief Orisian.
»Halb so schlimm«, knurrte Rothe. »Scheint nicht gebrochen zu sein. Ein Glück, dass dieser Inkallim-Köter keine längeren Zähne hatte, sonst wäre ich zu nichts mehr zu gebrauchen.« Er deutete mit dem Kinn auf das Schwert, das Orisian immer noch festhielt, und streckte die unverletzte Hand aus. Ohne Zögern reichte ihm Orisian die Waffe mit dem Heft voraus. Auch mit einem Arm konnte Rothe besser damit umgehen als er selbst. Der Leibwächter lächelte grimmig, als er das Schwert an sich nahm.
»Da fühlt man sich gleich besser«, knurrte er. Dann warf er einen Blick auf die Klinge und verzog das Gesicht. »Auch wenn das Ding nicht gerade gut behandelt wurde.«
Wieder ertönte der Alarm, diesmal noch lauter als zuvor. Er schien jetzt ganz aus der Nähe zu kommen, aber das ließ sich im Rauschen
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