Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)
andere schlugen mit Stöcken auf ihn ein.
Er bettelte und schmeichelte, aber am Ende musste eine Abrechnung erfolgen. Trotz seiner langen Abwesenheit hatte er einst zum Volk gehört, und es war ihr Recht und ihre Pflicht, ein Urteil über ihn zu fällen. Die Stimme teilte mit, was sie entschieden hatte, und sie führten ihn wieder ins Freie.
Der Na’kyrim wehrte sich und schrie, als sie ihn aus dem Vo’an trugen, und seine Worte drohten Nebelschleier um die Gedanken der Krieger zu legen. Sie schlugen mit ihren Speerschäften auf ihn ein, bis er still war und sich nicht mehr rührte. Dann schleppten sie ihn aus dem Tal hinauf in die Berge. Immer höher kletterten sie, bis nur noch vom Wind verkrüppelte Bäume wuchsen und das Gras unter ihren Füßen rau und hart wurde. Am Nachmittag durchbrachen sie das Dach von Anlane und gelangten in die Hochmoore, die ein Niemandsland zwischen Wald und Himmel bildeten. Und immer noch gingen sie weiter, durch Schluchten und über Felsenkämme. Nach langer Zeit stiegen sie wieder ab, und endlich erreichten sie das Vorgebirge und den dicht von Bäumen gesäumten Richtstein.
Der Koloss stand einsam an der Stelle, wo ihn der Wandelnde Gott zurückgelassen hatte. Er war etwa doppelt mannshoch und von Flechten in zahllosen blassgrünen und grauen Schattierungen bedeckt, die älter als der Clan und älter als die Kyrinin waren. Zwischen und über den Flechtenteppichen breiteten sich dunklere Flecken aus. Schwarze Streifen, unauslöschlich bis in alle Ewigkeit, liefen wie die Spuren von Mitternachtstränen aus zwei glatten Augenhöhlen hoch oben im Antlitz über die Front des mächtigen Felsblocks herab.
Die Krieger legten den Na’kyrim auf den Boden und entkleideten ihn. Im gedämpften Abendlicht wirkte seine Haut dünn und aschfahl. Er wollte sich aufrichten, aber sie drückten ihn nieder. Sie knebelten ihn mit einem Stein, den sie mit einem Stoffstreifen umwickelt hatten. Einer von ihnen brachte zwei zugespitzte und gehärtete Weidenäste, jeder armlang und dicker als ein Männerdaumen. Der Na’kyrim wand sich. Die Kyrinin arbeiteten rasch, um zu verhindern, dass er sie mit seinen Geheimkräften verzauberte. Sie hoben seine Arme und hielten sie fest umklammert, während die Holzschäfte durch seine Handgelenke getrieben wurden. Der Na’kyrim brüllte trotz seines Knebels laut auf und fiel in Ohnmacht.
Zwei Krieger bestiegen den Felsblock und zogen den Bewusstlosen mit Seilen aus geflochtenem Gras ein Stück nach oben, während ein dritter sich tief herabbeugte und die Weidenstäbe in die Löcher an der Fassade einpasste. Sie glitten in die Öffnungen wie schon Dutzende von Malen zuvor, und dann hing der Na’kyrim gekreuzigt am Richtstein.
IX
Tief gebückt, um sich gegen den Regen zu schützen, überquerten Orisian und die anderen die lange hölzerne Stegbrücke über die Mündung des Dihrveflusses. Schlinggewächse und Entenmuscheln klebten unterhalb der Wasserlinie an den Pfosten; Moder und Fäule nagten an den sichtbaren Stützen. Der Übergang wirkte einigermaßen sicher – der Dihrve war hier an der Mündung träge und ungefährlich –, aber Orisian fragte sich doch, wie lange das Gebilde noch halten würde.
Beim Erwachen war der Himmel dunkel gewesen, und der elende Regen war immer dichter geworden. Als Orisian erklärte, er wolle sich auf die Suche nach Ess’yr und Varryn machen, hatte er eigentlich gehofft, die anderen würden in der Hütte bleiben. Aber Yvane, Anyara und Rothe hatten sich nicht davon abhalten lassen, ihn zu begleiten.
Während sie am Flussufer entlang zur Brücke gingen, fragte er Yvane, ob ein unangemeldeter Besuch sie in Schwierigkeiten bringen würde. Die Na’kyrim winkte ab.
»Die sind hier nicht so förmlich«, meinte sie. »Sonst gäbe es wohl nicht so viele Na’kyrim in der Gegend.«
»Nach Hammarns Worten insgesamt zehn«, sagte Orisian. »Aber wir haben noch keinen Einzigen gesehen. Was ist mit ihnen? Verstecken sie sich?«
»Es kann dir nicht entgangen sein, dass sich hier keiner um den anderen kümmert und jeder für sich bleibt. Zur Zeit sind alle angespannt; sie spüren, dass Ärger in der Luft liegt.«
Sie behielt recht mit ihrer Vorhersage, dass sie das Vo’an ohne Weiteres betreten konnten. Niemand versuchte sie aufzuhalten, als sie die wackligen Laufplanken verließen und durch die Zeltgassen wanderten. Breite Bahnen aus geflochtenen Schilfmatten bedeckten den knöcheltiefen Schlamm, der Besucher in der Menschensiedlung
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