Wir Ausgebrannten
Jahrhundert nur am Grad der Erschöpfung zu messen ist, die sie nach sich zieht. Die Krankheit als Folge von täglicher Mühe ist der Normalfall, nicht der Feierabend. Trotzdem können auch diejenigen, die nicht ausbrennen, weil sie zu wenig zu tun haben, am Ende auf eine erlösende Diagnose hoffen: Burnout, Boreout oder Prokrastinie, ganz wie Sie wünschen.
Wenn wir in die Buchhandlung gehen und den Buchhändler fragen, was er uns denn mal als Lektüre empfehlen würde, wenn wir ein bisschen etwas über unsere Gesellschaft und den Begriff von Arbeit und Sinn und Erfahrung wissen wollen, dann zerrt er uns wie einen störrischen Lehrling vor den Tisch mit den Burnout-Titeln: Erfahrungsberichte, Hilfsanleitungen, ja, sogar ganze Romane werden über Burnout geschrieben, das sind wahrscheinlich mehr als über den Zweiten Weltkrieg, Vietnam und Irak zusammen. Wenn wir ins Kino gehen, haben wir es immer öfter mit Filmen zu tun, in denen Menschen mit Zivilisationsschäden im Mittelpunkt stehen. Alles ist Krankheit, alles ist therapeutisch. Wer einmal zu viel masturbiert hat, ist sexsüchtig; wer raucht, ist nikotinsüchtig, wer trinkt, muss in die Entwöhnung; und wer das Leben als grundsätzlich heitere, weil ohnehin begrenzte Zeit begreift, gilt als unernster Zeitgenosse, dem das menschliche Elend egal ist.
Wie man richtig lebt, weiß niemand so richtig. Aber dass diejenigen, die ein bisschen über den Durst leben, grundsätzlich falsch leben, das wissen vor allem diejenigen, die uns mit Verboten, Anweisungen und Lebenshilfeterror Tag für Tag auf den Wecker gehen.
DIE ELENDEN ABMAHNER
Vor einigen Jahren genehmigte sich der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt eine Zigarette im Festsaal des Winterhuder Fährhauses in Hamburg. Der Saal war voll, er war an diesem Tag Schauplatz einer Veranstaltung, bei welcher Schmidt als Ehrengast geladen war. Weil man grundsätzlich davon ausging, dass Schmidt auch bei einer derart exklusiven Festivität nicht von der Gewohnheit des Rauchens Abstand nehmen würde, hatte man zu seiner Bequemlichkeit einen Aschenbecher platziert. Schmidt ist als notorischer Kettenraucher bekannt und irritiert, ja verärgert besonders die Klugen und dem Dasein zugewandten, die ganz genau wissen, dass schlechte Angewohnheiten das Leben verkürzen und vor allem die anderen belästigen. Das ist überhaupt das größte Missverständnis unserer Tage: Menschen, die das Leben genießen, hindern mit ihrem Tun andere Menschen an der Ausgestaltung ihrer Grundrechte. Die Freude findet also auf Kosten derer statt, die das Leben eher auf Sparflamme halten, damit sie länger etwas davon haben, immerhin glauben sie das. Jedenfalls zeigte drei Wochen später ein übergeschnappter Nichtrauchermissionar namens Horst Keiser den Altbundeskanzler bei der Staatsanwaltschaft an – wegen versuchter Körperverletzung. Natürlich überlegt man sich als verantwortungsvoller Staatsbürger, ob man nicht seinerseits Horst Keiser wegen Körperverletzung anzeigen sollte, weil man vor Wut Bauchschmerzen bekommt, wenn man sein kleines, böses Rechthabergesicht im Internet sieht, und Bauchschmerzen können zu chronischer Gastritis führen – in dem Fall hätte Horst Keiser zahlen müssen. Aber das wäre nutzloses Eifern gewesen, denn die Stunde der Horst Keisers hat längst geschlagen – die Stunde der Weltverbesserer, der Ermahner, der ungefragten Ratgeber, Hausmeister und Sektengründer, kurz: der Türsteher einer geschlossenen Gesellschaft. Eine ganze Weile waren wir alle so stolz darauf, dass wir in einer Zeit leben, in der es kaum noch Tabus gibt. Gut, manchmal kam ein niedlicher Theaterfrechdachs oder ein französischer Schriftsteller angerannt und behauptete, er habe eines der letzten Tabus gebrochen. Dann gähnten meistens alle, weil das Tabu ja schon längst gebrochen und ausrangiert in der Asservatenkammer der postmodernen Gesellschaft herumgammelte.
Ja, wir sind nicht nur ausgebrannt, weil wir zu viel arbeiten, sondern auch, weil wir inzwischen jede Art von Genuss, jede hedonistische Überschreitung als Sündenfall sehen. Und auch hier haben die Streiter gegen das Laisser-faire den Staat und seine tangentialen Institutionen an ihrer Seite. Nehmen wir gleich mal die Raucher zum Beispiel. Zu keiner Zeit hat es dermaßen viele Kampagnen gegen den Nikotingenuss gegeben wie heute. Man kann gelegentlich den Eindruck gewinnen, die Schädlichkeit des Rauchens sei erst in den vergangenen fünf Jahren erkannt worden. Dabei wusste
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