Wir Ausgebrannten
Werther , ein Klassiker; Sten Nadolnys Entdeckung der Langsamkeit , ein schönes Beispiel für postmodernes Schreibspiel, und Katharina Hagenas Romans Der Geschmack von Apfelkernen , ein hübsches Stück Batik-Literatur, leicht lesbar und doch mit den Problemen des Altwerdens und der Demenz befasst – also viel Raum für Interpretationen nach dem gelernten hermeneutischen Prinzip. Lena hat das alles gelesen und fand jedes Buch auf seine Art spannend. Sie hat sich Exzerpte gemacht, so weit alles gut. Aber jetzt kommt allmählich der Prüfungstag näher und damit die Herausforderung, das Exzerpierte in ein tragfähiges Denkgebäude zu überführen, sprich: zu lernen.
Lena geht nicht einmal gerne aus, sie hat auch keinen Freund, aber viele Freunde, insgesamt sind es 256, vielen begegnet sie allabendlich auf Facebook. Aber mit denen kann sie sich nicht über den Geschmack von Apfelkernen austauschen, da geht es mehr um Mad Men und The Wire oder den neuen Hut von Kate Mountbatten-Windsor. Sie möchte eigentlich nicht immer auf Facebook sein, aber immer, wenn sie die Exzerpte über den Geschmack von Apfelkernen ansieht, geht ihr Finger automatisch auf die Maustaste und – klick – ist sie wieder bei ihren 256 Freunden. Einige von ihnen haben schon kleine Kinder, und wenn Lena die Fotos von niedlich zerknautschten Säuglingsgesichtern sieht, fällt ihr ein, dass sie auch noch in der Pflicht steht, in einigen Jahren Mutter zu werden, denn das gehört zur Rundung eines erfolgreichen Lebens im 21. Jahrhundert dazu. Natürlich hat Lena ihr ohnehin zeitlich knapp bemessenes Studium von Anfang an durchgeplant. Sie hat zwei Auslandssemester in Frankreich verbracht, in Lille, wo sie sich in einen Spanier verliebt hat, der ein Auslandssemester in Berlin absolvierte, sodass sie die meiste Zeit auf Facebook war oder auf Skype, um mit ihm Kontakt zu halten. Von Lille hat sie nicht so viel mitbekommen und vom Studium weiß sie nur, dass es Listen gibt, die helfen, ein bestimmtes Grundwissen von Literaturgeschichte in relativ kurzer Zeit auf den Schirm zu bekommen. Manchmal weiß Lena nicht, was sie eigentlich will, wofür das steht, was sie da alles so macht, und dann fühlt sie sich ausgebrannt wie eine Managerin im zehnten Berufsjahr. Ihr Lebenslauf ist vom ersten Praktikumsplatz an auf Erfolg angelegt. Es gibt kein Mäandern, es gibt kein Vertrödeln, es gibt nicht den Luxus des Verweilens und des Zweifelns.
Kurz gesagt: Es warten Anforderungen in immer weniger überschaubarer Zahl auf die junge Frau, und jetzt möchte sie erst einmal einen schönen laktosefreien Cappuccino trinken, ehe sie sich an den Geschmack von Apfelkernen macht. Sie geht dazu in das kleine Café an der Uni, da hat sie es nicht allzu weit zur Bibliothek, wo sie seit dem frühen Morgen sitzt und exzerpiert. Im Café an der Uni trifft sie den Mitstudenten Marc, der zwar ein ganz anderes Studienfach absolviert, aber ebenso stark unter Prüfungsdruck steht wie Lena. Gegenüber Marc beklagt sie, dass es kaum noch Betreuung an den Fakultäten gebe und sie am liebsten noch ein Auslandssemester einlegen möchte. Marc dagegen hat den gesamten Prüfungskram schon intus, er prokrastiniert nicht und schlägt vor, den Abend im Biergarten ausklingen zu lassen. Lena willigt ein und kehrt spät am Abend in ihr Zimmer zurück, betrunken von zwei Maß Bier und angestrengt von den Avancen, die Marc ihr gemacht hat. Sie hat keine Lust auf Marc, sie muss arbeiten. Aber es geht nicht, weil sie immer wieder abgelenkt ist. Irgendwann kann Lena nicht mehr. Sie lässt sich einen Termin beim Psychologen geben. Der sagt ihr, dass sie sich für jede erbrachte Leistung belohnen muss. Zum Beispiel indem sie, immer wenn sie etwas geschafft hat, eine Murmel in ein Einmachglas wirft. Wenn das Einmachglas voll ist, hat sie sich ideal auf die Bachelor-Prüfung vorbereitet.
Ja, wir scheinen tatsächlich mächtig einen an der Murmel zu haben. Und wie es aussieht, finden wir uns auch ganz zauberhaft dabei. Wir begegnen jedem, der sich uns mit einem der drei klassischen Erschöpfungsleiden vorstellt, mit größtem Verständnis und Mitleid. Denn zu den wichtigen Riten der Erschöpfungsgesellschaft gehört die unbedingte Solidarität mit den Opfern. Jeder, der seine weiße Fahne mit dem Burnout-Logo hochhält, wird mit Samthandschuhen angefasst, Spott bedeutet nicht weniger als Blasphemie und Ratschläge dürfen nicht erteilt werden, denn an diese fragilen Zivilisationsopfer dürfen jetzt nur noch
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