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Wir Ausgebrannten

Wir Ausgebrannten

Titel: Wir Ausgebrannten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hilmar Klute
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insbesondere denjenigen, die den in kürzester Zeit zu absolvierenden Bachelor-Studiengang gewählt haben, ist ein Leiden ausgebrochen, das man früher als notorische Faulheit kannte und deren Protagonisten man mit dem Attribut Bummelstudent liebevoll-spöttisch belegt hat. Die Vorbereitung auf ein Seminar oder eine Zwischenprüfung auf den nächsten, möglicherweise übernächsten Tag zu verschieben, galt als unzweckmäßige, aber irgendwie menschliche und dem Leichtsinn der Jugend geschuldete Untugend. Heute ist diese Verschiebetechnik eine Krankheit. Sie wurde zuverlässig mit einem entsprechenden medizinischen Etikett versehen und weist bereits Therapieangebote auf. Die Rede ist von der Prokrastination, der – natürlich, was sonst? – krankhaften Neigung, Dinge vor sich herzuschieben, anstatt sie umgehend zu erledigen. Besonders Studenten, die sich in geisteswissenschaftlichen Disziplinen bilden, klagen über entsprechende Symptome, nämlich Lust an der Ablenkung durchs Internet, YouTube und benachbarte Bars.
    Ach, man möchte sie bei der Hand nehmen, die jungen Leute, und ihnen zurufen: Euer ganzes Leben wird ein Bachelor-Studiengang sein, er wird nur viel länger dauern. Ihr werdet immer wieder erstaunt feststellen, dass es Lockungen gibt, die viel interessanter sind als das, was ihr im Augenblick seid, macht und vorhabt. Wenn ihr schon müde davon werdet, dass ihr eure Seminararbeiten pünktlich abliefern müsst, wie wollt ihr denn später mal professionelle Burnout-Patienten werden, die vor lauter Multitasking nicht mehr wissen, wie sie heißen? Als Hauptmotiv für die Prokrastination wird häufig die Versagensangst angeführt. Aber die Versagensangst ist in Wahrheit ein wichtiges Korrektiv. Wären wir nicht in der Lage, auch unser Scheitern als Möglichkeit in Betracht zu ziehen, würden wir vermutlich alle irgendwann größenwahnsinnig werden. Die Unfähigkeit, die Signale des Hirns richtig interpretieren zu können, ist weniger ein Beleg für die überhöhten Ansprüche, welche Arbeit und soziales Leben an uns stellen. Sie sind vielmehr ein Hinweis darauf, dass wir uns mehr und mehr, und oft schon in jungen Jahren, von unseren autonomen Fähigkeiten verabschieden. Wir kennen uns nicht mehr richtig und wollen uns auch nicht mehr richtig kennen. Normale Vorgänge, Launen unserer Natur und alltägliche Defizite begreifen wir als Persönlichkeitsstörung. Das legitimiert uns dazu, wegen jedem Kinkerlitzchen Hilfe zu holen, uns in Therapie zu begeben, unsere Verantwortung für uns selbst an andere zu delegieren. Warum soll ich mir Sorgen um mich selbst machen; weshalb muss ich als junger Mensch die Anstrengung auf mich nehmen, meine Ziele abzustecken und mich zu fragen, warum ich gerade nicht in der Lage bin, mein Leben auf die Reihe zu kriegen; warum soll ich all dies tun, wenn ich genauso gut in die Therapie gehen kann? Es gibt für studentische an Prokrastination Leidende an manchen Universitäten sogar Ambulanzen, um einen akuten Aufschiebe-Schub zurückzuschieben. In einer auf längere Zeit angelegten Therapie sollen die Prokrastinaten pro geschaffter Lerneinheit eine Murmel in ein Einmachglas werfen.
    Eine Fallgeschichte könnte sich so lesen: Die 23-jährige Germanistikstudentin Lena hat gerade ihr fünftes Semester beendet und steht nun vor der Bachelor-Prüfung. Bis dahin hat sie sich im Rahmen verschiedener Praktika einen Überblick über ihre beruflichen Perspektiven verschafft; ein viersemestriges Auslandsstipendium hat ihr offenbart, dass am Trinity College in Dublin andere pädagogische Sitten herrschen als an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität. Wenn ein Student des Trinity zwei Tage nicht im Seminar erschienen war – sei es wegen Krankheit oder wegen der Pubs – erhielt er am dritten Tag einen freundlichen Anruf seines Professors mit der Frage, ob irgendetwas vorgefallen sei, was dem Studenten das zügige Lernen vergälle, oder ob er sich im Seminar nicht recht wohlfühle. Natürlich sind derlei Fürsorge-Anrufe kluge Schachzüge von Lehrenden, die wissen, dass Studenten grundsätzlich anfällig sind für Bummeleien, was ja nicht schlimm, sondern eine Begleiterscheinung ihres jugendlichen Alters ist. Trotzdem ist die zarte, aber bestimmte Nachfrage des Tutors ein erster Schritt zur Prokrastinationsprophylaxe. Lena hätte da eigentlich schon etwas merken können.
    Für die Bachelor-Prüfung hat sie drei Themen zur Auswahl, sie hat sie sich selbst ausgesucht und sie lauten: Goethes

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