Wir Ausgebrannten
man auch in früheren Jahren, dass Tabakgenuss genau wie übermäßiges Trinken dem Wunsch nach einem langen Leben eher abträglich ist. Aber es wurde nicht sanktioniert, weil man vor 30 Jahren noch nicht das Bedürfnis hatte, die Gesellschaft in Leistungsträger und Genießer zu unterscheiden. Die Leistungsträger arbeiten so lange und so intensiv, bis sie in die Burnout-Klinik müssen. Die Genießer arbeiten auch, aber sie gehen an ihrer Arbeit nicht zugrunde, weil sie den philosophischen Überbau des Epikur haben, der seinerzeit die gute Losung ausgab: »Man kann nicht in Freude leben, ohne mit Vernunft, anständig und gerecht zu leben; aber man kann auch nicht vernunftvoll, anständig und gerecht leben, ohne in Freude zu leben.«
Mit der Freude ist es in unserer Reglementierungsgesellschaft allerdings schwierig bestellt. Obwohl wir uns pluralistisch geben, ist Lebensfreude eine unteilbare Größe geworden, weil sie so viel Konfliktpotenzial mit sich führt. Zu keiner Zeit wurde in Deutschland dermaßen unverschämt in die Lebensführung der Menschen eingegriffen wie heutzutage. Und noch nie gab es gegen den Ratgeber- und Warnhinweis-Wahn dermaßen wenig Protest. Warum machen wir das alles mit? Warum lassen wir uns alles verbieten? Warum lassen wir uns erzählen, dass wir früher sterben, nur weil unser Body-Mass-Index über 25 liegt? Wie war eigentlich der Body-Mass-Index von Winston Churchill – war der nicht viel zu hoch? Und der von Konrad Adenauer nicht viel zu niedrig? Beide sind 90 geworden. Warum glauben wir, dass es gesund ist, kiloweise Obst und Gemüse zu essen, obwohl die Zähne von Fruchtsäuren zersetzt werden und Mangelernährung droht? Wissen wir nicht mehr, dass wir ein Recht darauf haben, dick zu sein? Ein Recht, ungesund zu leben, ja zu rauchen und zu trinken, als hätten wir mit Bacchus eine Wette abgeschlossen, wer als Erstes unterm Tisch liegt? Tabus, argumentiert der große Philosoph Karl Popper in seinem Essay Die freie Gesellschaft und ihre Feinde , Tabus beruhen auf magischen Ideen, wie etwa auf der Idee, dass die Schicksalsmächte besänftigt werden müssen. Deshalb hat die Pharmaindustrie dem Botox andere Bereiche als die Heilung von Muskelerkrankungen und Migräne erschlossen, denn die Schicksalsmacht des Alterns sitzt in den Tränensäcken, da kommt die Nadel noch gut hin. Oder warnen Gesundheitsexperten auch schon vor dem Zeug? Also, was jetzt? Ständig Schläge zu bekommen, ist grausam, aber ständig Ratschläge zu bekommen, ist die Hölle. Trotzdem erhalten wir von allen Seiten Tipps zur Ernährung, müssen wir in Internettests auskundschaften, ob wir schon Alkoholiker sind oder noch ein normales Trinkverhalten haben: »Wenn Sie mehr als drei Fragen mit Ja beantwortet haben, sollten Sie einen Arzt oder Therapeuten konsultieren.« Mittlerweile muss es zur Allgemeinbildung gehören zu wissen, dass ein Mann nur 20 bis 24 Gramm Alkohol zu sich nehmen darf, wenn er die »risikoarme Schwellendosis« nicht überschreiten will. Frauen sind angehalten, nur die Hälfte davon zu trinken, also einen dionysisch bis zum Rand gefüllten Fingerhut. Die Durchgeknalltheit von Menschen, die glauben, sie könnten die Welt retten, indem sie einmal weniger mit dem Flugzeug fliegen oder abends Kerzen statt Glühbirnen brennen lassen, gilt mittlerweile beinahe als Normalität. Und einige politische Gruppierungen, allen voran die Grünen, haben das linke Ökospießertum in ihre Parteiprogramme aufgenommen. In Berlin machte vor Kurzem der Pankower Bezirksstadtrat Jens-Holger Kirchner von sich reden, indem er für Pankower Gaststätten das sogenannte Smiley-System einführte. Restaurants, die sich an die Hygieneverordnungen hielten, wurden mit einem Smiley belohnt. Wer dagegen wie der Wirt der Kneipe Majakowski seinen Salat in der Badewanne reinigte, wurde im Internet an den Pranger gestellt und konnte sich mit dem Gedanken anfreunden, sein Lokal zu schließen. Die Tatsache, dass vieles in unserer globalisierten Welt ungerecht ist, ruft immer wieder Gerechtigkeitsfanatiker auf den Plan, die in ihrer mormonenhaften Schmallippigkeit alles diffamieren, was sich nicht vor jeder biologisch gereiften Matschtomate in den Staub wirft. Es handelt sich um moralisch Erwählte, die täglich für die Weltrettung kämpfen, um den Preis des Verzichts auf alles, was das Leben angenehm macht. Dabei ist ihnen durchaus klar, dass jeder Mensch, der normal lebt, Sünden an der Unversehrtheit der Welt begeht. Unangenehm an
Weitere Kostenlose Bücher