Wir Genussarbeiter
Bewegen der Fingerspitzen auf der Tastatur und die Fokussierung der Pupillen, ansonsten ist nur sein Hirn tätig. Beiläufig nimmt er hier eine Information auf, reagiert dort auf einen Reiz, klickt sich durch Webseiten, folgt diesem oder jenem Link, während er Ideen und Projekte verwirklicht, manchmal sogar seine eigenen.
Seitdem der Mensch sich aus der göttlich verfügten Ordnung und der selbst verschuldeten Unmündigkeit befreit hat, muss er sich nicht mehr knechten lassen oder Schlosser werden, nur weil der Vater Schlosser war. Er kann sich seine Tätigkeit aussuchen, sich mit Leib und Seele in sie einbringen, sich mit ihr identifizieren, was naturgemäß zur Folge hat, dass die Ansprüche an die eigene Leistung sehr hoch sind: Wenn das Werk unvollkommen ist, ist es sein Schöpfer, seine Schöpferin auch; erst wenn das Werk perfekt ist, hat die arme Seele Ruh. Aber was ist schon perfekt? Lässt sich nicht immer noch ein bisschen feilen? Verschönern? Optimieren?
Die Lust an der Überschreitung, die kennzeichnend fürs Genießen ist, lebt der Genussarbeiter vor allem in seiner Arbeit aus. Nicht mehr nur die Verbotsüberschreitung, die ›süße Sünde‹, sondern insbesondere die Selbst überschreitung im Beruf ist es, die ihm Lustgewinn bringt. Yes, you can! , ruft sich der Genussarbeiter unentwegt selbst zu – allein, wenn dieser motivierende Zuruf zu einem abstrakten Leistungsimperativ wird, verliert der Genussarbeiter schnell jedes Gefühl für die eigene Schmerzgrenze. »Das entgrenzte Können ist das positive Modalverb der Leistungsgesellschaft«, wie der Philosoph Byung-Chul Han in seinem Buch Müdigkeitsgesellschaft schreibt. Die andere Seite der Selbstüberschreitung ist die Selbstausbeutung, die übertriebene Verausgabung in der Arbeit, die mit der Gefahr lähmender Erschöpfungsmüdigkeit unauflöslich verbunden ist.
Ein Genuss, der nichts mit Arbeit zu tun hat, macht zwanghaften Genussarbeitern Angst. Sie fürchten sich vor der ›unnützen‹ Zweckfreiheit, die sie als Leere empfinden, als ein Ungehaltensein im doppelten Wortsinne: Ohne ihre Arbeit fühlen sie sich in ihrem Sein gefährdet, sie werden unruhig und agieren latent aggressiv – manchmal gegen sich selbst, manchmal gegen andere. Zeit mit kleinen Kindern zu verbringen etwa hält der exzessive Genussarbeiter in der Regel nicht lange aus. Auf dem Spielplatz wird eifrig ins Smartphone getippt, und beim Holzklötzchenbauen schweifen die Gedanken immer wieder ab zu diesem oder jenem wichtigen Projekt, das dringend vorangetrieben werden muss, Elternzeit hin oder her. Spielen um des Spielens willen, Stunde und Tag vergessen, ja, überhaupt keinen Begriff von Zeit zu haben, noch nicht einmal Sprache, das alles gemahnt an einen Daseinszustand, in den man nicht zurückfallen will, nicht zurückfallen darf . Das kindliche Sein ist ein mythisches: zeitlos, geheimnisumwoben, fremdbestimmt – bestimmt durch Mächte, deren Verfügungsgewalt alles umfasst. Das kindliche Dasein ist ein schicksalsergebenes Dasein, es ist eingebettet in die elterlich-göttliche Gewalt, die des Kindes innere Ruhe, seine Selbstvergessenheit im Spiel erst ermöglicht: Nur wer auf den Halt vertraut, kann sich dem Spiel hingeben. Doch genau das – Vertrauen zu haben – ist Genussarbeitern kaum möglich. Es gibt nichts, worauf sie sich verlassen wollen beziehungsweise können, sie fühlen sich austauschbar, ersetzbar, und sie sind es auch. Sich in der Arbeit zu verlieren wie in einem lustvollen Spiel und zwischendurch müßigzugehen ist in der beschleunigten Wachstums- und Wettkampfgesellschaft nicht gefragt; was zählt, sind Leistung, Effizienz und Flexibilität . Der moderne Genussarbeiter ist, ausgerüstet mit Smartphone oder Blackberry, immer erreichbar und einsatzbereit und muss doch
ständig fürchten, dass jemand anderes noch erreichbarer und einsatzbereiter ist als er selbst, weshalb er die Verbindung zur Arbeit selbst im Urlaub hält. Die Verfügbarkeit des flexiblen Genussarbeiters, sein Ehrgeiz und seine Elastizität sind das Fundament der modernen Wachstumsgesellschaft: »Der flexible Mensch«, schreibt der Soziologe Richard Sennett, ist »driftend«, er treibt durch den globalen Kapitalismus wie ein Stück Holz im (Geld-)Fluss.
Das Urvertrauen des Kindes ähnelt in vielerlei Hinsicht dem Gottvertrauen des vormodernen Menschen: So wie das Kind sich auf seine Eltern verlässt und genau daraus seine Kraft zieht, hat dieser einst auf Gott vertraut. Es war der
Weitere Kostenlose Bücher