Wir Genussarbeiter
Glaube an einen Vater im Himmel, der den Rahmen für die eigene Existenz bereitstellte, ein Rahmen, der einengte, aber auch Sicherheit versprach. Seit der Aufklärung aber will der Mensch sich nicht mehr bestimmen lassen und sich in sein göttlich verfügtes Schicksal ergeben. Seine Existenz ist nicht länger fixiert durch Herkunft und Stand, sondern, dem Ideal der Französischen Revolution zufolge, frei. Diese Freiheit ist, unbezweifelbar, eine der größten Errungenschaften der Geschichte: Jeder Mensch kann sich (zumindest idealerweise) je nach seinen Fähigkeiten entwickeln und entfalten und einen frei gewählten Beruf ausüben. Er kann – wenn er sich nur gehörig anstrengt – die soziale Leiter hinaufklettern und ist, wie es heißt, ›seines eigenen Glückes Schmied‹. Die dialektische Kehrseite der Freiheit aber ist die Möglichkeit des Scheiterns. Wo die Chance zum Aufstieg ist, lauert immer auch die Gefahr des Abstiegs. In dieser Spannung zwischen Glück und Unglück, zwischen Erfolg und Ruin, zwischen Grandiositätsgefühl und Depression bewegt sich der Genussarbeiter von heute, ob bewusst oder unbewusst, ständig: Ohne Pause ist er unter Strom, greift ehrgeizig nach den Sternen – denn jedes
Nachlassen, Ablassen, Auslassen und Loslassen birgt sogleich das Risiko des Falls.
Die Dialektik der Aufklärung haben wir längst noch nicht verarbeitet. Gerade einmal gut zweihundert Jahre ist es her, dass der Mensch ohne göttliche Bevormundung, die gleichzeitig metaphysische Geborgenheit bedeutete, leben muss, leben darf. Der vormoderne Mensch hatte Rituale, an die er sich halten konnte, religiöse Rituale, die ihn zur Ruhe kommen ließen wie etwa das Gebet oder der arbeitsfreie Sonntag. Der moderne Mensch hingegen muss vor sich selbst rechtfertigen, wann und ob er sich eine Pause gönnt; er muss damit zurechtkommen, dass sein Platz in der Gesellschaft keineswegs gesichert ist; und er muss akzeptieren, dass seine Existenz nicht mehr gehalten wird durch ein göttlich verbürgtes Danach. Der Tod bedeutet das unwiederbringliche Ende, weshalb wir uns, um ihn zu verdrängen, mehr denn je in hektische Betriebsamkeit flüchten. Die Hyperaktivität des Genussarbeiters, seine Arbeits- und Beschäftigungssucht, ist immer auch ein Ausdruck von Todesangst; genauso wie sein Fitness- und Wellness-Wahn, dessen Ziel es ist, den Körper jung zu halten, um ihn so lange wie möglich vor dem unabänderlichen Verfall zu bewahren.
Das Menschenbild der Aufklärung war ein materialistisches. Nicht die (undurchdringliche, metaphysische) Seele, der Körper war der neue Schlüssel zur Wahrheit, seine Mechanismen, seine Funktionsweisen zu verstehen, das hieß, den Menschen zu verstehen und ihn gegebenenfalls reparieren zu können wie eine Maschine. Heute spitzt sich diese Verwissenschaftlichung zu in den Neurowissenschaften, die jede menschliche Regung auf Neuronenströme im Hirn zurückführen möchte, auf Ströme, die sich abbilden und messen lassen und die wieder zum Fließen gebracht werden müssen, wenn sie einmal
stocken. Die Begeisterung, die diese Wissenschaftsdisziplin derzeit ausübt, ist unübersehbar: Kaum ein Phänomen findet sich noch, das wir nicht mit den Erkenntnissen der Hirnforschung zu erklären versuchen, und auch die Muße ist längst in den Kernspintomographen geschoben worden, wie Ulrich Schnabel in seinem Buch Muße. Über das Glück des Nichtstuns darlegt. Doch auch wenn es richtig sein mag, dass wir unser »Betriebssystem«, wie Schnabel das Arbeitsgedächtnis nennt, nicht überfordern dürfen und ihm Pausen gönnen müssen, darf nicht übersehen werden, dass die Neurowissenschaft sich dem Leistungsgedanken, der unsere Gesellschaft beherrscht, zutiefst verschrieben hat.
Das offensichtlichste Beispiel hierfür ist das sogenannte Hirndoping oder fachsprachlich ausgedrückt: das Neuroenhancement. Unter Enhancement versteht man einen korrigierenden Eingriff in den menschlichen Körper, der nicht aufgrund einer medizinisch indizierten Krankheit, sondern allein zum Zweck der Optimierung erfolgt. Neben schönheitschirurgischen Maßnahmen, auf die wir in diesem Buch ebenfalls zu sprechen kommen werden, fällt auch die Verabreichung leistungssteigernder Medikamente wie Ritalin oder Modafinil unter den Begriff des Enhancement. Entwickelt wurden diese Medikamente für die Behandlung von Depressionen, Aufmerksamkeitsstörungen und exzessiver Schläfrigkeit, doch weil sie auch geeignet sind, um Prüfungsängste und
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