Wir Genussarbeiter
Konzentrationsschwächen einzudämmen, werden sie immer häufiger verabreicht, um Erschöpfte schnell wieder arbeitsfähig zu machen. Wer arbeitet, soll sich nicht quälen, sich nicht herumplagen mit körperlichen Schwächen und psychischen Blockaden. Das Genießen der Arbeit wird damit zum Programm.
Im Lichte der Neurowissenschaften erscheint der (arbeitende) Mensch als entgrenzte Lustmaschine: als ein System,
das funktioniert, solange man es schmerzfrei hält. Allein: Wenn der Schmerz nur noch als Störung, als ein Fehler im System begriffen wird und Körpergrenzen lediglich dazu da sind, um überschritten zu werden, verliert der Mensch einen wesentlichen Bezugspunkt seiner Existenz. Nur wenn ich mich selbst als begrenzt erlebe, habe ich überhaupt ein Selbst; sobald ich diese Grenzen medikamentös auflöse, verschwimme ich mit meiner Umwelt und mit den Anforderungen, die sie an mich stellt. Ein spannungsvolles Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen Ich und Wir kann es nur geben, wenn der Mensch Kontur behält, wenn er seine Grenzen kennt und anerkennt und, vor dem Hintergrund einer (psychischen oder somatischen) Schmerzerfahrung, sein eigenes Leben wie auch gesellschaftliche Verhältnisse hinterfragt. Schmerz gibt Anlass zum Denken; wer ihn eindämmt, um möglichst schnell wieder arbeiten zu können, beugt sich dem Leistungsdiktat.
Wenn wir verstehen wollen, warum wir uns heute bis zur völligen Erschöpfung in der Arbeit verausgaben, und wenn wir begreifen möchten, weshalb das Genießen immer mehr Menschen außerordentlich schwerfällt, dürfen wir es nicht dabei belassen, den menschlichen Körper als radikal entkontextualisierten in den Blick zu nehmen. Wir haben nicht einfach nur ein Hirn, sondern wir haben auch eine Geschichte, eine individuelle Biographie, die sich in unseren Körpern, in unseren Gefühlen und Ängsten materialisiert und die auch unser Verhältnis zur Arbeit und zum Genuss maßgeblich beeinflusst. Und nicht nur unsere Vergangenheit ist höchst spezifisch, wir leben auch in einer ganz bestimmten Gesellschaft: einer Gesellschaft, die uns – bei aller Freiheit, die sie uns gewährt – einem überaus strengen Leistungsimperativ unterwirft. Diese individuellen und kulturellen Implikationen sieht – im Unterschied zur Neurowissenschaft – die Psychoanalyse Sigmund Freuds,
auf die sich dieses Buch deshalb maßgeblich stützt: Bereits am Beginn des vergangenen Jahrhunderts bemerkte Freud die zunehmende »kulturelle Nervosität«, die verursacht wird durch gesellschaftlich geforderten Triebverzicht; und dass Depressionen und Angstzustände ihre Ursache nicht einfach in fehlerhaften Neuronenströmen haben, sondern auf komplexe, individuelle Verdrängungsmechanismen zurückgehen, ist die grundlegende Einsicht der psychoanalytischen Theorie. »[I]ch weiß nichts, was mir für das psychologische Verständnis der Angst gleichgültiger sein könnte, als die Kenntnis des Nervenwegs, auf dem ihre Erregungen ablaufen«, so Freud in seiner Vorlesung über die Angst.
Aus Sicht Freuds ist der Mensch kein in sich schlüssiges, autonomes, transparentes System, das, wenn alles ›normal‹ ist, funktioniert und sich im Falle einer Dysfunktion pharmazeutisch-technisch korrigieren lässt. Vielmehr ist der Mensch von Beginn an ein Mängelwesen: Er ist angewiesen auf Andere, deren Liebe und Anerkennung er begehrt und die er braucht, um zu (über-)leben. Dass wir uns nicht nur in Liebesbeziehungen, sondern auch in der Arbeit bisweilen bis zum Kollaps erschöpfen, hat fundamental mit diesem Begehren zu tun: Wir wollen anerkannt sein . Durch den Anderen, den wir lieben; durch das Werk, in dem wir uns spiegeln; von der Gesellschaft, für die wir arbeiten. Alles, was wir tun, ist auf einen Anderen bezogen. Und wer dessen Anerkennung nicht bekommt, kennt in seinem Ehrgeiz keine Grenze, in der Hoffnung, durch vermehrte Anstrengung doch noch Wertschätzung zu erfahren.
Es ist diese konstitutive Abhängigkeit vom Anderen, die uns in Bewegung hält und uns manchmal auch in tiefe Verzweiflung stürzt. Denn können wir uns seiner Anerkennung überhaupt jemals vollkommen sicher sein? Tatsächlich beruht der
menschliche Zweifel wie auch der menschliche Wille – unsere Lebensenergie, unsere Neugierde, unser sexuelles Begehren, unser Ehrgeiz, unsere Schöpferkraft – wesentlich auf dieser Unsicherheit, die wir nie ganz überwinden können: Wir sind nun einmal keine selbstgenügsamen, fröhlich durch die
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